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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 1 / Januar 2003



Nachtrag zu 50 Jahre Baden-Württemberg:

Personelle Kontinuitäten

von Janka Kluge

Nach der Befreiung vom Faschismus war in den ersten Monaten die Entnazifizierung angesagt. Millionen Mitglieder der NSDAP und ihrer Unterorganisationen wurden überprüft und zum größten Teil als nicht belastet eingestuft. Lediglich bei einigen wenigen lautete das Urteil auf nationalsozialistisch belastet. Abgesehen von den in Nürnberg verurteilten und dann hingerichteten Hauptkriegsverbreecher gingen die Untersuchungsrichter äußerst glimpflich mit überzeugten Nazis um.

Die VVN machte seit ihrem Bestehen auf diesen Skandal aufmerksam. In einer 1961 veröffentlichten Stellungnahme hieß es:
"Das entscheidende Kritierum bildet die Tatsache, dass in der Bundesrepublik eine Politik betrieben wird, die nicht den Idealen und Zielen entspricht, für die einst die Widerstandskämpfer unter großen Opfern eingetreten sind und noch heute eintreten. Ausdruck dieser Politik ist die Tatache, dass sich in den Schlüsselstellungen des öffentlichen Lebens unzählige prominente Repräsentanten des Nazistaates befinden. (...)" 1)

Wehrwirtschaftsführer ...
Diese personelle Kontinuität läßt sich auch in den Ländern Baden und Württemberg nachweisen. Einer von denen, die ihre Karriere mühelos in die Bundesrepublik fortsetzen konnten, war der Fürst von Fürstenberg. Er war nicht nur Inhaber einer namhaften Brauerei und großer Waldflächen im Schwarzwaldkreis Neustadt, sondern während des Dritten Reiches auch Wehrwirtschaftsführer und damit einer der maßgeblichsten Männer der nationalsozialistischen Wirtschaft. Männer wie er waren verantwortlich für die Verteilung der Zwangsarbeiter auf die Wirtschaft. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes mußte der Fürst sich nicht einmal vor der Entnazifierungsstelle verantworten. Es genügte, daß der ehemalige Hauslehrer seiner Kinder, Leo Wohleb, ein gutes Wort für ihn einlegte. Wohleb war nach 1945 Staatspräsident des Landes Südbaden.

... und Ministerpräsidenten
Ein anderer Wehrwirtschaftsführer der nie belangt wurde, war der Trossinger Fabrikant Fritz Kiehn. Er war von 1933 Inhaber einer kleinen Fabrik, die Zigarettenpapier herstellte. Während der Enteignung jüdischer Firmen kaufte Kiehn überall wo möglich Konkurrenzunternehmen für einen Betrag, der weit unter dem Wert des Unternehmens lag, auf. Bei einer Untersuchung vor dem Landtag Südwürttemberg-Hohenzollern erklärte er dreist: "Wie sollte ich auch ahnen, dass der Jude zurückkommen wird?" 2) Nach 1945 blieb sein so zusammengekauftes Unternehmen weiter bestehen. Für einen guten "Neuanfang" sorgten u.a. anderem Staatsbürgschaften, die ihm Gebhard Müller besorgte. Müller, Mitglied der CDU war damals Staatspräsident von Südwürttemberg-Hohenzollern, danach Ministerpräsident von Baden-Württemberg und später Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Wahlsieg für die NPD
Ein anderer Ministerpräsident von Baden-Württemberg war Hans Filbinger. Der "furchtbare Jurist" Filbinger übte das höchste Amt im Land von 1966 bis 1978 aus. Zunächst in eine große Koalition mit der SPD eingebunden, erreichte die Filbinger-CDU bei der Landtagswahl 1972 mit Hilfe der NPD eine absolute Mehrheit von 52,9%. Die NPD, von 1969 bis 1972 mit 9% im Landtag vertreten, hatte damals ihre Kandidatur zurückgezogen und zur Wahl der CDU aufgerufen. In den sechs Jahren seiner Alleinregierung trimmte der Ex-Marinerichter Filbinger, umgeben von einer Ministerriege bewährter ehemaliger NS-Kader das vordem liberal geprägte Bundesland auf strammen Rechtsaußenkurs. Am 17. Februar 1978 enthüllte der Schriftsteller Rolf Hochhuth, daß Filbinger als Hitlers Marinerichter noch in britischer Kriegsgefangenschaft am 29. Mai 1945(!) einen Soldaten zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt hatte, weil der sich das Hakenkreuz von der Uniform gerissen und "Ihr Nazihunde" gerufen hatte. Das Urteil bezeichnete Filbinger als "ausserordnetlich mild", denn eigentlich hätte zum Tode oder zumindest zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden müssen.
Ohrfeige für Kiesinger - Beim Bundesparteitag der CDU am 8.11.68 verpasste Beate Klarsfeld dem Kanzler vor laufenden Kameras eine Ohrfeige und rief "Faschist!"

Der Fall Filbinger
Dieser Enthüllung folgten bald weitere. Es wurde bekannt, daß Filbinger am 16. Januar 1945 als Vertreter der Anklage (Marinestaatsanwalt) die Todesstrafe für den 22-jährigen Matrosen Walter Gröger beantragt hatte. Gröger wurden Desertionsabsichten vorgeworfen. Am 17. März 1945 ließ Filbinger die Todesstrafe gegen den jungen Matrosen vollstrecken.
Der zuletzt in Tübingen lehrende Professor für Literaturgeschichte und Mitbegründer der VVN Hans Mayer schildert seine Eindrücke vom Fall "Filbinger" so: "Bestürzend finde ich vor allem die politischen Irrtümer des Dr. Filbinger. Man lebte im März des Jahres 1945. (...) Wie sah das politische Weltbild des Marinerichters Dr. Filbinger aus während jener Agonie des Dritten Reiches? Gab es da keine Einsicht, dass man das Verfahren hinschleppen, ein Leben retten müsse, da ohnehin alles hinfällig sei: militärische Disziplin, Feigheit vor dem Feind, Wehrkraftzersetzung? Bei Dr. Filbinger jedoch, das scheint mir unabweisbar zu sein, spukte auch damals noch die Hoffnung auf den 'Endsieg', auf die Wunderwaffe, auf die große Wende im Kopf und im Handeln. (...) Auch im Gefangenenlager scheint Dr. Filbinger, diesmal als Richter, politisch nicht anders argumentiert zu haben als kurz vorher. (...) Abermals wird das Dritte Reich gleichgesetzt mit dem 'Recht', wird das Kriegsdenken aufbewahrt nach Kriegsende." 3) Im August 1978 mußte Filbinger unter öffentlichem Druck vom Amt des Ministerpräsidenten zurücktreten. Der Mann, der kurz zuvor noch vor dem Landtag erklärt hatte, "Was damals Recht war, kann doch heute nicht Unrecht sein" fühlt sich bis heute als verfolgte Unschuld. Der bald 90-Jährige steht dem von ihm gegründeten Studienzentrum Weikersheim, das eine Scharnierfunktion zwischen Neofaschisten und Rechtskonservativen ausübt, vor. Die Südwest-CDU hat ihn ausserdem zu ihrem Ehrenvorsitzenden ernannt.

Von Goebbels' Ministerium ...
Filbingers Vorgänger im Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger konnte auf eine "Blitzkarriere" als stellvertretender Leiter der direkt dem Goebbels-Ministerium unterstehenden Rundfunktpolitischen Abteilung zurückblicken. Nur drei Jahre nach seinem Eintritt ins Auswärtige Amt 1940 hatte Kiesinger eine Position inne, die normalerweise - wenn überhaupt - erst nach vielen Jahren im diplomatischen Dienst erreicht werden konnte. Zu seinen Aufgaben gehörte u.a. das Abhören ausländischer Rundfunksender (Feindsendungen) und die Zusammenfassung der wichtigsten Meldungen in einem Bulletin, dem "Seehaushausdienst". (Seehaus war ursprünglich der Name eines Gebäudes am Wannsee, wo ab Juli 1940 das damals größte Abhörzentrum der Welt errichtet wurde.) Darüber hinaus beschäftigte sich Kiesingers Abteilung auch mit dem Senden von gezielten Falschinformationen. Als griechischer Heimatsender "Patris" getarnt verbreitete sie die Meldung, die Engländer vergifteten das Athener Wasser. Kiesinger, der bei seiner Vernehmung vor dem Bonner Schwurgericht am 4. Juli 1968 erklärte, nichts vom industriellen Massenmord an den Juden und beispiellosen Kriegsverbrechen gewußt zu haben, gehörte in Wahrheit zu den bestinformierten Männern des Nazi-Reiches. Der am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetretene Kiesinger hatte eine Vertrauensposition inne, die der persönlichen Zustimmung sowohl des Aussenministers Ribbentrop als auch des Propagandaministers Goebbels unterlag. Er war Mitwisser der geheimsten Beschlüsse und Absichten nicht nur der Reichsregierung, sondern auch des immer mehr in die Position des Hitler-Vertrauten rückenden Goebbels.

... zum Bundeskanzler
Nach der Befreiung von Faschismus und Krieg steckten ihn die Amerikaner folgerichtig in ein Internierungslager in Ludwigsburg. 18 Monate saß er dort ein. Nach seiner Entlassung galt sein ganzes Bestreben dem Ziel, das anstehende Entnazifierzungsverfahren möglichst unbeschadet zu überstehen. Praktischerweise saß in der Ludwigsburger Spruchkammer sein Schwiegervater, der Rechtsanwalt Dr. Schneider. Der setzte alles daran, dem Schwiegersohn günstige Startbedingungen zu verschaffen und stufte ihn in die Kategorie IV "Mitläufer" ein. Das war unter den gegebenen Bedingungen das bestmögliche Ergebnis, aber für eine politische Karriere damals noch nicht gut genug. In einem zweiten, von ihm selbst angestrengten Entnazifizierungsverfahren schaffte er den Sprung in die Kategorie V "Entlastet". Damit war der Weg in die Politik freimanipuliert.


Anmerkungen
  1. Abgedruckt in "Von Buchenwald bis Hasselbach" Hrsg. Präsidium der VVN; Röderberg Verlag 1987, S. 34
  2. Zitiert nach "Von Buchenwald bis Hasselbach", Hrsg. Präsidium der VVN; Röderberg Verlag 1987, S. 30
  3. Hans Mayer in "In Sachen Filbinger gegen Hochhut" Hrsg. von Rosemarie von dem Knesebeck, rororo 1980
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