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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 4 / Oktober 2003



Nach dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren:

Faschismus im Verfassungsrang?

von Elke Günther

Mit der Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens durch das Bundesverfassungsgericht am 18.3.2003 gehört der 2001 mit beträchtlichem medialem Aufwand inszenierte "Aufstand der Anständigen" endgültig der Vergangenheit an. NPD und andere Neonazigruppen, wie "Freie Kameradschaften" wittern wieder Morgenluft.

Hatte die NPD-Parteiführung während des Verbotsverfahrens ihre vordem enge Zusammenarbeit mit den sogenannten Freien Kameradschaften aus taktischen Gründen, aber auch wegen interner Streitigkeiten zeitweilig eingeschränkt, so ist heute fast schon alles wieder wie gehabt. Die NPD knüpft an ihre erfolgreiche auf Mitgliederzuwachs orientierte Strategie der Öffnung gegenüber gewaltbereiten Neonazis an. Auch militante Neonazis profitieren von den Vorteilen, die ihnen legale Parteistrukturen bieten. Kaum ein Wochenende vergeht, ohne daß irgendwo in der Republik ein Naziaufmarsch stattfindet.

Freispruch für die NPD
Das Prozedere ist fast immer das Gleiche: Städte und Gemeinden versuchen die Nazizusammenrottungen zu verhindern, Gerichte - oft in zweiter Instanz - ermöglichen den Aufmarsch. Die Einstellung des Verbotsverfahrens wird inzwischen nicht mehr nur von den Neonazis als Sieg auf der ganzen Linie gewertet, sondern zunehmend auch von den Strafverfolgungsbehörden zumindest als "Freispruch 3. Klasse" behandelt. Die Hauptsorge der Strafverfolgungsbehörden gilt heute noch mehr als bisher dem störungsfreien Ablauf der Naziaktionen. Aktionen von Antifaschisten dagegen werden als "verfassungsfeindliche Infragestellung des Rechts auf freie Meinungsäußerung" behandelt. Das "Recht" der Neonazis auf ungehinderte Verbreitung rassistischer und nationalistischer Hetzparolen gewinnt so geradezu Verfassungsrang.
Da kassierte das höchste deutsche Gericht ein vom Bayerischen Verwaltsgerichtshof bestätigtes Verbot des Nazi-Aufzugs in der "Rudolf-Hess-Stadt" Wunsiedel. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte festgestellt, dass mit dem "Heß-Gedenkmarsch eine "Verherrlichung des Nationalsozialismus" bezweckt werde und dass dies eindeutig "der Werteordnung des Grundgesetzes zuwider" laufe.

Naziverherrlichung mit hohem Stellenwert?
Das Bundesverfassungsgericht sah das nicht so. Ob durch den Naziaufmarsch Gefahren für elementare Rechtsgüter bestehen, die ein Verbot rechtfertigten, könne im Rahmen eines Eilrechtsschutzes nicht geklärt werden, befand das BVG. Angesichts des hohen Stellenwerts der Versammlungsfreiheit in einer freiheitlichen Demokratie überwiegen die Gefahren, die bei einem Verbot der Versammlung eintreten, diejenigen, die bei Durchführung der Versammlung als "möglich erscheinen" entschied das Gericht und stattete so den Aufzug von 2600 Neonazis zu Ehren des Hitlerstellvertreters Rudolf Heß - darunter Naziführer Martin Wiese - mit höchstrichterlichen Weihen aus. Was selbst Bayerns Rechtsaußen-Innenminister Beckstein zur Kritik veranlaßte: "Bedauerlicherweise lasse das Bundesverfassungsgericht eine intensive Befassung mit der "Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch die Verherrlichung des Nationalsozialismus" vermissen, erklärte Beckstein.

Keine Gnade für AntifaschistInnen
Das hohe Gut der Demonstrationsfreiheit findet indessen seine Grenzen, wenn es um Gegendemonstrationen geht von AntifaschistInnen geht.
So rief die Polizeipräsidentin der Stadt Hagen ausdrücklich dazu auf, nicht gegen Nazis zu demonstrieren, auf jeden Fall aber auf Trillerpfeifen zu verzichten, weil dies die Störung einer genehmigten Veranstaltung darstelle, was mit Gefängnis mit drei Jahren bestraft werden könne. Im Raum Aachen reagierten die Strafverfolgungsbehörden auf Beleidigungsklagen von Neonazis mit Hausdurchsuchungen bei Antinazis, fertigten Fotos von Antifaschisten an, verhörten sie. Über ihre Rechtsanwälte gelangten die Neonazis sogar - per Akteneinsicht - zu neuem Material für Anti-Antifa-Terrorkampagnen. Haussuchungen, ebenfalls wegen des Vorwurfs "der üblen Nachrede" gegen Nazis wurden bei jungen AntifaschistInnen in Bad Homburg vorgenommen. Dabei beschlagnahmte die Polizei mehrere PCs.

Justitia bleibt nur auf einem Auge blind
Mitglieder der sogenannten "Freien Kameradschaften" um den (jetzt wegen des geplanten Sprengstoffanschlags verhafteten) Münchner Naziführer Martin Wiese marschieren ungehindert hinter einem Transparte mit der Aufschrift "Nationalsozialismus" durch München. Dagegen wurde ein Antifaschist, der gemeinsam mit 20 weiteren Mitstreitern mittels eines 50 m langen unbeschrifteten weißen Transparents versucht hatte, eine Gruppe von Neonazis auf dem Münchner Stachus von der Öffentlichkeit abzuschirmen wegen "Grober Versammlungsstörung" zu 40 Tagessätzen zu 50 Euro verurteilt. Der Staatsanwalt hatte wegen der "Uneinsichtigkeit" des Angeklagten die Erhöhung auf 50 Tagessätze gefordert. "Sie können gegen Rechtsextreme nur in dem Rahmen vorgehen, der Ihnen von der Demokratie zugestanden wird" meinte die Vorsitzende Richterin dem Verurteilten, einem 60-jährigen Sozialarbeiter, mit auf den Weg geben zu müssen. Und in einer Demokratie hätten auch Andersdenkende ein Demonstrationsrecht.
Am 23. September verurteilte das Münchner Amtsgericht den 78-jährigen Antifaschisten Martin Löwenberg, Mitglied im bayerischen Landesvorstand der VVN-BdA, wegen "Aufrufs zu einer strafbaren Blockade" zu 15 Tagessätzen a 20 Euro.

Antifaschismus bleibt "uneinsichtig"
Er hatte in seiner Rede am 30. November 2002 ausgerufen: "Verhindern wir gemeinsam den Aufmarsch von alten und neuen Nazis" und "es ist legitim, sich den Totengräbern der Demokratie entgegen zu stellen." Tausende Münchner hatten damals versucht eine Demonstration von Neonazis gegen die Wehrmachtsausstellung (Anmelder der Nazidemo war ebenfalls Martin Wiese!) zu verhindern. Auch Münchens OB Ude und die Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch hatten dazu aufgerufen, sich den Nazis in den Weg zu stellen - ohne dafür Strafbefehle zu erhalten. Der Staatsantwalt warf dem ebenfalls "uneinsichtigen" NS-Verfolgten Martin Löwenberg - 15 seiner Familienangehörigen haben die Nazis ermordet - vor, sich im Namen einer höheren Moral bewußt für eine Straftat entschieden zu haben, indem er den Neonazis das Demonstrationsrecht absprach. Über die Rechtmäßigkeit einer Demonstration hätten allein die Gericht zu befinden - "sonst würde der Pöbel auf der Straße bestimmen, wer das Versammlungsrecht ausüben darf."
Der Mitangeklagte Christiaan Booissevain wurde zu 30 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt. Der Vorwurf gegen ihn lautete: Verteilen von kopierten Stadtplänen, auf denen die Marschroute der Neonazis eingezeichnet war. Die Prozesse gehen weiter. Im Oktober steht der Münchner Grünen-Fraktionschef Siegfried Benker vor Gericht. Auch er hatte dazu aufgerufen, einen Naziaufmarsch zu verhindern.
Löwenbergs Rechtsanwältin hatte in ihrem Schlußplädoyer erklärt: "Ich schäme mich für den Rechtsstaat, daß ich hier stehen und diesen Mann verteidigen muss." Antifaschistisches Engagement der Bürger sei notwendig zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung, da Polizei und Justiz dazu offenbar nicht in der Lage seien. Polizeibeamte seien offenbar noch nicht einmal mit den historischen Grundbegriffen vertraut seien. So sei im Polizeiprotokoll über Löwenbergs Rede von einer "KFZ-Häftlingskleidung" die Rede gewesen und daß "Göppel" am 9. November 1938 die "Reichspognomnacht" auslöste.

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