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Nummer 4 / Oktober 2003



Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion:

Wiederbelebung der Präventivkriegs-Lüge

von Reinhard Hildebrandt

Die Behauptung, Hitler habe am 22. Juni 1941 einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion begonnen und sei damit einem geplanten Angriff Stalins lediglich zuvorgekommen, ist und bleibt falsch. Für Neonazis allerdings gehört die Legende vom Verteidigungskrieg Hitlers gegen Stalin seit 1945 zum selbstverständlichen Repertoire. Seit Mitte der achtziger Jahre gewinnt die Präventivkriegsthese in Deutschland auch außerhalb neofaschistischer Stammtische wieder an Boden. Konservativen Historikern geht es um die Umwertung der Geschichte mit dem Ziel, die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg und seinen Grausamkeiten zu widerlegen oder wenigstens zu mindern. Ihnen geht es vorrangig um die Entlastung der Wehrmacht, die einen Vernichtungskrieg geführt hatte und an Kriegsverbrechen und am Holocaust beteiligt war.

Der "Fall Barbarossa" war der militärische Deckname für den deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22.6.1941. Hitlers Befehl zum Angriff war verbunden mit der Lüge von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, dass die Wehrmacht an der Ostfront einen Präventivkrieg kämpfe. Nur knapp sei man einem unmittelbar bevorstehenden Angriff der Roten Armee Stalins zuvorgekommen. Zunächst jedoch fiel die Botschaft vom Präventivschlag noch nicht auf fruchtbaren Boden: "Im Volk eine leicht deprimierte Stimmung. Das Volk will den Frieden, zwar nicht den verlorenen, aber jeder neu aufgemachte Kriegsschauplatz bereitet ihm Sorgen und Kummer", notierte Goebbels am Tag des Angriffs in sein Tagebuch.

Verdrängung der Wahrheit
Erst durch den Kriegsverlauf - die erste große Gegenoffensive der Roten Armee vor Moskau im Dezember 1941 und die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad 1942 - hielten immer größere Teile deutschen Bevölkerung den Krieg an der Ostfront für einen legitimen Abwehrkampf gegen die nach Westen drängende Sowjetunion. Zur Verdrängung der historischen Wahrheit gehört es, dass diese Meinung auch nach 1945 in der BRD überlebte. Erst in den sechziger Jahren war die Vorgeschichte des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion international so gut erforscht, dass sich jede Diskussion über die Behauptung, es habe sich um einen "Präventivkrieg" gehandelt, erübrigte. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die ausführliche Studie von Andreas Hillgruber "Hitlers Strategie, Politik und Kriegsführung 1940-1941", Frankfurt/M, 1965.

Vom Dunstkreis der Nazis...
Seitdem blieb die Legende vom Präventivschlag auf die Sowjetunion auf neofaschistische Kreise beschränkt. Zum Beispiel verbreitete der Altnazi Adolf von Thadden, späterer NPD-Bundesvorsitzender (1967-1971) in seinem Machwerk "Stalins Falle" direkte NS-Propaganda vom Präventivkrieg.
Seit Mitte der achtziger Jahre wurde das Thema aus dem Dunstkreis neonazistischer Blätter herausgeholt. Die "Frankfurter Allgemeine" (FAZ) gab dem Militärhistoriker Joachim Hoffmann das Wort: "Stalin wollte den Krieg" (FAZ v. 1.10.1986) und eröffnete eine Debatte über den Krieg der Diktatoren (Günther Gillessen: "Der Krieg der Diktatoren", in FAZ v. 20.8.1986). Seitdem wird versucht, die Präventivkriegssthese wieder salonfähig zu machen: "Es dürfte heute erwiesen sein, dass der Krieg gegen die Sowjetunion - anders als die Umerziehungspropaganda behauptet - in erster Linie ein nur schweren Herzens begonnener, aufgezwungener Präventivkrieg war", schrieb Heinz Trettner ("Bonner Generalanzeiger" vom 11. März 1997). Trettner, pensionierter Vier-Sterne-General der Bundeswehr, der 1964 bis 1966 als Generalinspekteur höchster Offizier der BRD war, machte sich als "ehemals führender Repräsentant der demokratischen Bundesrepublik die offizielle NS-Darstellung von 1941 öffentlich zu eigen", schreiben zwei junge Historiker erstaunt (Lars Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff: Deutsche Legenden. Berlin 2002, S. 72). Hätten sie die Biografie von Trettner recherchiert, wären sie wohl nicht so verwundert gewesen, denn mit Heinz Trettner stand ein Kriegsverbrecher an der Spitze der Bundeswehr. Trettner gehörte zu den ersten Freiwilligen der faschistischen "Legion Condor", er war 1937 Staffelkapitän der Kampfgruppe, die die friedliche baskische Stadt Guernica bombardierte. 1940, inzwischen Major und Stabschef, war er beteiligt an der Bombardierung Rotterdams, dafür wurde er von Hitler auf Vorschlag Görings mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet. Ein weiteres Kriegsverbrechen: Unter dem Oberbefehl Trettners begannen 1944 umfangreiche Sprengvorbereitungen und Zerstörungsmaßnahmen in Florenz. General Trettner 1997 gegen "Umerziehungspropaganda" - dieser Terminus aus dem neofaschistischen Sprachgebrauch zeigt, dass er seiner Gesinnung treu blieb.

...zum Inspekteur der Bundeswehr
Trettner blieb mit seiner Wiederbelebung der NS-Propaganda nicht allein. Das Buch von Joachim Hoffmann: "Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945" erreichte seit seiner Erstveröffentlichung 1995 respektable Verkaufszahlen und mehrere Auflagen. Hoffmann war am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg tätig, seine Absicht ist klar, es geht ihm vorrangig um die Entlastung der Wehrmacht. Nicht die deutsche Armee habe einen Vernichtungskrieg geführt, sondern Stalin, so Hoffmann. Der Grazer Philosoph Ernst Topitsch behauptet sogar, nicht Hitler, sondern Stalin war der Urheber des Zweiten Weltkrieges (Topitsch in seinem Buch "Stalins Krieg", München, 1985). Für Franz W. Seidler, bis zu seiner Pensionierung als Militärhistoriker an der Universität der Bundeswehr tätig, stehen sowjetische "Verbrechen an der Wehrmacht" im Vordergrund des Interesses (Seidler: Verbrechen an der Wehrmacht. Kriegsgreuel der Roten Armee 1941/42. München 1997). Auch der Historiker Werner Maser erklärt die Täter zu Opfern (in seinem Buch: Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg. München 1994). Die Autoren behaupten, dass die zeitweilige Öffnung sowjetischer Archive Quellen zutage gefördert habe, aus denen die Vorbereitung der Sowjetunion zu einem Angriffskrieg gegen das Deutsche Reich heute einwandfrei zu belegen sei.

Goebbels Propaganda als "Wissenschaft"
Wissenschaftlich haltbare Belege sucht man jedoch vergebens. Was als neue Quellen deklariert wird, stellt hauptsächlich eine Nachlese bekannter Archivmaterialien dar, zum Teil aus der Nazizeit. Der Historiker Manfred Messerschmidt hat die Argumente der Vertreter der Präventivkriegsthese untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass die wiederbelebte "neue" These vom Präventivkrieg die alte These der deutschen Kriegspropaganda ist. Die Behauptung, Hitler habe einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion begonnen und sei damit einem geplanten Angriff Stalins lediglich zuvorgekommen, ist und bleibt falsch. Für einen Präventivkrieg gibt es keine Beweise. Warum hält sich die Legende vom Präventivkrieg Hitlers gegen die Sowjetunion trotz aller widersprechenden Erkenntnisse so hartnäckig? Es geht um die Umwertung der Geschichte mit dem Ziel, die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg zu leugnen, Deutschland als Aggressor zu entlasten.

Reinwaschung der Wehrmacht...
Es geht zum einen um die Entlastung der Wehrmacht. Nicht sie habe einen Vernichtungskrieg geführt, sondern Stalin. Dabei handelt es sich auch um Angriffe auf die Ausstellung über die "Verbrechen der Wehrmacht" , die den Mythos von der "sauberen Wehrmacht", welcher das Selbstbewusstsein der deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges prägte, entzaubert hatte. Jahrelang war die Tatsache, dass nicht wenige Wehrmachtsangehörige und Truppenteile an Kriegsverbrechen und am Holocaust beteiligt waren, von den Zeitgenossen verdrängt worden. Entlastung erhofften sich die Verteidiger einer "sauberen Wehrmacht" nun zumindest für die Kriegsführung gegen die Sowjetunion, indem sie Präventivkriegsthese aktualisierten. Auf den neofaschistischen Internetseiten findet man noch viele weitere Bücher und Aufsätze zur "Schuldfrage am Zweiten Weltkrieg". Bei allen Unterschieden ist ihnen eines gemeinsam: Schuld am zweiten Weltkrieg waren alle anderen, nur nicht Hitler.
Die logische Fortsetzung der Legende vom Präventivkrieg Hitlers gegen Stalin ist die Legende vom "sauberen Krieg" der Wehrmacht.

...zur Rechtfertigung der Bundeswehr
Es geht aber auch um die Entlastung der Bundeswehr, die heute in immer neue Kriegseinsätze geschickt wird. Sie soll vom Ballast der verbrecherischen Vergangenheit des deutschen Militärs und der deutschen Politik befreit werden. Die Lüge von der "Verteidigung Deutschlands am Hindukusch" ist so wenig plausibel, wie jene des Präventivkrieges der Wehrmacht. Aber diese Lügen werden gebraucht, um zu rechtfertigen, was mit der Wahrheit nicht zu rechtfertigen ist: Die deutsche Armee ist wieder dabei, zum Instrument einer deutschen Weltmachtpolitik zu werden.


Literaturhinweise:
Eine gute Argumentationshilfe gegen die vereinigte Propaganda von Neofaschisten und Konservativen bietet der 2000 erschienene Sammelband verschiedener Beiträge, herausgegeben von Bianka Pietrow-Ennker, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz ("Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion." Fischer Taschenbuch Nr. 14497.) Immer noch lesenswert ist die Dokumentation von Lew Besymenski: "Sonderakte Barbarossa", DVA Stuttgart 1968. Vom gleichen Autor gibt es ein neues Buch zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, mit Dokumenten aus Stalins Geheimarchiv, sein Titel: "Stalin und Hitler" (Aufbau-Verlag, 2002).


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