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Nummer 1 / Januar 2005



Sozial- und Lohnabbau haben eine Geschichte - der BDI eifert seinem Großvater nach:

Der Sozialraub bedroht die Zivilgesellschaft

von Anne Rieger

"Gerade weil wir die Sozialversicherung erhalten wollen, halten wir es für unumgänglich notwendig, daß sie unverzüglich mit den wirtschaftlichen Kräften unseres Volkes in Einklang gebracht wird." Nicht von Michael Rogowski, Dieter Hundt oder Otmar Zwiebelhofer stammt dieses Zitat. Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) hatte bereits im September 1931 in scheinheiliger Sorge diese brutale Sozialraubthese in die Welt gesetzt.

Wer auf Hundt getippt hatte, lag allerdings nicht ganz falsch. Denn auf dem Deutschen Arbeitgebertag 2004 forderte er die Abkoppelung der Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung vom Arbeitsverhältnis mit der Begründung: "Eine nachhaltig finanzierbare und leistungsfähige Sozialversicherung erfordert eine Konzentration der Sozialleistungen auf eine Basissicherung" (16.11.2004).
Entsprechend den Wünschen der besitzenden Herren, setzt Bundeskanzler Schröder diese in der Agenda 2010 zusammengefasste Politik mit brachialer Gewalt um:
Höhere Versicherungsleistungen mit der Riester-Rente bei gleichzeitiger Rentenkürzung, Leistungskürzung der Krankenkassen bei höheren Beiträgen, weniger Arbeitslosengeld, dafür höhere Beiträge bei der Pflegeversicherung. Während die einen immer reicher werden (gerade mal zehn Prozent der Haushalte besitzen fast die Hälfte des Vermögens und ihre Steuern sinken beständig), werden wir anderen sozial enteignet. Existenzangst droht.

Tarifverträge verbrennen
Bereits 1931 zielte der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) auf das Herz der organisierten Arbeiterbewegung, den Tarifvertrag. "Erforderlich ist eine Anpassung der Löhne und Gehälter an die gegebenen Wettbewerbsverhältnisse. Die Hauptvoraussetzung für eine individuelle Lohngestaltung ist eine Reform des Tarif- und Schlichtungswesens." Schon damals mussten die "gegebenen Wettbewerbsverhältnisse" als anonyme Verursacher herhalten.
Etwas moderner im Ton - aber gleich hart in der Sache - fordert Otmar Zwiebelhofer, Vorsitzender des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg, 2004 das gleiche: "Wir müssen unsere Netzwerke weiter ausbauen und stabil machen für den globale Wettbewerb. Wir brauchen noch mehr Angebote für noch mehr Flexibilität bei Arbeitskosten und Arbeitszeiten. Der Tarifvertrag sollte den Betriebsparteien angesichts der unterschiedlichen betrieblichen Entwicklung die Kompetenz für Entscheidungen ermöglichen. Wir brauchen nicht mehr tarifliche Regulierung, sondern mehr betriebliche Eigenverantwortung" (18.11.2004).
Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), der Nachfolgeorganisation des RDI, formuliert offen um was es ihnen geht: "Man müsste Lagerfeuer machen und erst mal die ganzen Flächentarifverträge verbrennen und das Betriebsverfassungsgesetz dazu und dann das ganze schlank neu gestalten" ist seine terroristische Forderung 73 Jahre später.
Warum diese Raubritter-Töne? Um "die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen zu stärken", lässt uns Zwiebelhofer wissen (18.11.2004). Angesichts der Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft vor den USA und Japan Exportweltmeister bleibt, die Deutschen mehr als zehn Prozent der weltweiten Exporte generieren, und unterm Strich ein Überschuss in der Handelsbilanz von 158 Milliarden Euro bleibt, mehr als je zuvor, handelt es sich um eine offene Kampfansage an die abhängig Beschäftigen und ihre Gewerkschaften.
Sozial- und Lohnraub sowie kostenlose Arbeitszeitverlängerung, die Gier der Unternehmer scheint keine Grenzen mehr zu kennen. Nachdem Siemenschef von Pierer zugunsten der Aktionäre in mehreren Werken Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzung durchsetze, weist der Konzern für die ersten neun Monate in 2004 3,4 Mrd. Euro Gewinn nach Steuern aus. Schrempp erreichte für die DaimlerChrysler Aktionäre ähnliches: erst presste er den Belegschaften eine halbe Mrd. Euro Einkommen jährlich ab, im Anschluss wies der Konzern 1,9 Mrd. Euro Gewinn nach Steuern aus. Zwei Beispiele, die im Trend der DAX notierten Unternehmen liegen, von denen die ersten zehn einen Milliardengewinn erwirtschafteten, und das bei kaum steigenden Umsätzen. Brutales Kostendumping lassen die Profitmargen zu lasten der Beschäftigten steigen, bei sich verengenden Weltmärkten.

Putsch von ganz oben
Mit Hartz IV hatte die rotgrüne Regierung den sozialen Boden dafür bereitet. Mit der Drohung von Jobverlagerungen oder der Verweigerung von Neu-Investitionen in Deutschland, erpressten die Konzernherren von den Belegschaften und ihren Gewerkschaften in 2004 Milliardenbeträge. Von ALG II zu leben ist grausam für die betroffenen Menschen. Die Angst vor der sozialen Enteignung durch ALG II wirkt aber vorauseilend auf die erpressbaren Belegschaften. Die nun in ständiger Furcht vor Arbeitslosigkeit lebenden Menschen lassen sich jahrzehntelang erkämpfte Einkommen und Arbeitsbedingungen durch die Aktionäre und ihre Konzernverwalter innerhalb von Tagen entreißen.
Zynischerweise werden alle Raubzüge damit begründet; dass es um die" Sicherung ... von Beschäftigung" (Zwiebelhofer 18.11.04) gehe. In Wirklichkeit steigt die Zahl der erwerbslosen Menschen von Monat zu Monat. Ein halbes Jahr, nachdem von Pierer die Menschen von Einkommen und Lebenszeit enteignet hatte, stellt er bereits die Handy-Produktion in Bocholt und Kampf-Lintfort in Frage. Und die Zahlen der Menschen, die fortgejagt werden sollen, steigt von Tag zu Tag: 10. 000 bei Opel, 2200 bei Bombardier, 2300 bei der Deutschen Bank, 550 bei Alcatel, 330 bei Leifheit, die Liste lässt sich endlos verlängern. Die Zahl der Erwerbslosen ist auf 7 Mio Menschen angestiegen. Einen "Putsch von ganz oben", nennt Arno Luik im Stern die Zertrümmerung des Sozialstaats.
Breite Bevölkerungskreise werden enteignet, entrechtet, erniedrigt, ihre Zeit und Zukunft wird ihnen gestohlen, auch ihrer Geschichte sollen sie beraubt werden. In ohnmächtiger Wut, gepeinigt durch die Angst um den Verlust ihre lebenslangen Ersparnisse, den Verlust ihrer Existenzgrundlagen werden sie von Konzernchefs, Politikern und dem Großteil der Medien in die Irre geführt. Die alte Parole, "wir sitzen alle in einem Boot" kommt in moderner Variante daher: Mit ihren Arbeitsplatz- und Sozialräubern sollen die Belegschaften sogenannte Standortvereinbarungen, Beschäftigungspakte, betriebliche Bündnisse zum angeblichen Erhalt ihre Arbeitsplätze und zur angeblichen Stärkung des Standortes Deutschland eingehen.
Ihre Angst verstellt ihnen häufig den Blick darauf, dass ihre Interessenlage einen andere ist, als die der tatsächlichen Verursacher der Massenarbeitslosigkeit. Denn die Konzernherren und Aktionäre profitieren mit Höchstgewinnen und steigenden Aktienkursen sowie dem Verschieben des gesellschaftlichen Kräftegleichgewichts zwischen Gewerkschaften und Konzernen von der Massenarbeitslosigkeit. Gleichzeitig aber stellen jene, im Verbund mit den herrschenden Politiker der großen Koalition und großen Teilen der Medien die Belegschaften anderer Länder mit ihren unzureichenden Einkommen, Arbeits- und Umweltbedingungen als die angeblichen Arbeitsplatzräuber dar. Somit verlieren die erpressten Belegschaften ihre wahren Gegner aus den Augen.

Neofaschisten - Ideologische Hilfstruppen
Als Ideologische Hilfstruppen wirken dabei neofaschistische Organisationen und Parteien. Ihr Begriff der Volksgemeinschaft fügt sich nahtlos an die Standortlogik der Unternehmer an und gemeinsam entsteht daraus ein Standortnationalismus. Die verbalen und realen Übergriffe der Neofaschisten auf MigrantInnen stellen diese ins Rampenlicht der öffentlichen Diskussion wenn gerade wieder über leere Sozialkassen lamentiert wird. Mit Rassismus, Nationalismus - und in Zeiten der hohen sozialen Verunsicherung auch wieder mit ihrer sozialen Demagogie - lenken die Neofaschisten von den Profiteuren ab und suchen die abhängig Beschäftigten zu spalten und ihre Verunsicherung zu vertiefen.
Was die Folgen solcher Politik sind, hat die Weimarer Republik gezeigt. Die Erscheinungsformen sind heute freilich andere, aber Wesensgleichheiten sind unübersehbar. Die Zivilgesellschaft ist in Gefahr.

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