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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 2 / Mai 2005



Peter Gingold über den 8. Mai 1945:

Vom Widerstand zur Befreiung

von Peter Gingold

Dies ist nicht der Artikel eines Historikers. Ich beschreibe einfach, was für mich der 8. Mai 1945 bedeutet, wie ich ihn ersehnte, als ich ein winzig kleines Rädchen unter denen war, die ein bisschen mithalfen, dass er herbeigeführt wurde und wie ich diesen Tag erlebte.

Anlässlich des 60. Jahrestages der Landung in der Normandie, zu der deutsch-französischen Begegnung vom französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac im Beisein des Bundeskanzlers am 6. Juni in die Normandie eingeladen, traf ich dort ehemalige Offiziere der Wehrmacht. Als ich ihnen sagte, ich vertrete hier die Deutschen, die an der Seite der Résistance kämpften, sagte einer von ihnen wortwörtlich: "Da haben sie ja gegen Deutschland gekämpft". Ich entgegnete, wir haben dazu beigetragen Frankreich von der Hitlerokkupation zu befreien, und zugleich war es für uns ein Kampf für Deutschland, um Deutschland von Hitler und dem Krieg zu befreien, es vor seinem endgültigen Untergang zu retten. Da erwiderte er mir wortwörtlich: "Wir wollten ja nicht befreit werden." Ich hatte vergessen zu fragen, ob er heute noch genau so denkt.

1933 - das war der Untergang!
Mir wurde erneut schlagartig bewusst, dass damals tatsächlich für die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Ende des Krieges nicht als Befreiung wahrgenommen wurde sondern als Niederlage, besiegt zu sein, vor allem von den Russen. Obwohl fast die gesamte deutsche Bevölkerung das Ende des Krieges herbeisehnte, je mehr sich der Krieg nach Deutschland wandte, sich die Todesnachrichten von der Ostfront häuften, die deutschen Städte sich in Trümmerlandschaften verwandelten und die Bevölkerung unter höllischen Ängsten in Luftschutzkellern verweilen musste.
Der 8. Mai, wer hatte in Deutschland nicht aufgeatmet?! Endlich Friede! Aber für wie viele war es Befreiung? Doch fast nur für die Überlebenden des Widerstandes, die Inhaftierten der KZ, der Nazi-Kerker, der im Exil Lebenden. Schließlich für alle, die im aufrechten Gang blieben, sich dem hässlichen Braun nicht anpassten. Für die große Mehrheit der Bevölkerung war es Schmach, den Krieg verloren zu haben, besiegt zu sein. Sie identifizierten sich so sehr mit der Niederlage des Nazireiches, seinem Untergang, als sei es ihre eigene Niederlage, ihr Untergang; sie empfanden es nicht als ihre Erlösung, Errettung. Darin liegt die eigentliche Tragik. Untergang? 1933 war der Untergang! Dessen war sich jedoch nur eine winzige Minderheit bewusst. Nie werde ich vergessen, wie ich an diesem 8. Mai 1945 mit der Turiner Bevölkerung getanzt habe. An diesem Tag befand ich mich in Norditalien mit den Kameraden der Brigade Garibaldi, der ich seit März 1945 angehörte. Ich kam dorthin, als Frankreich befreit war, jedoch der Krieg weiter ging. Noch gab es die Front in Lothringen und Elsaß, wo ich als Frontbeauftragter der "Bewegung Freies Deutschland" mit einigen anderen Deutschen über Megaphone die gegenüber liegenden Soldaten zur Aufgabe überreden wollte. Vergeblich. Einer von uns ist gefallen. Er hat sein Leben hergegeben um das Leben anderer zu retten.
Ich wurde dann beauftragt, mit italienischen Kameraden über die Alpen in die Piemonte zu der Resistenza zu gelangen, um meine Erfahrungen der TA in der französischen Résistance dort einzubringen. TA ist die Abkürzung von "Travail allemand" - Deutsche Arbeit. Von Beginn der Résistance im Herbst 1940 an, gleich nach am Anfang der Okkupation, hatten wir zunächst mit einer ganz kleinen Gruppe von Jugendlichen der "Freien deutschen Jugend" (FDJ) welche 1936 zusammen mit Willy Brandt in Paris gegründet wurde, damit begonnen, was später TA genannt wurde: Aufklärungsarbeit unter den Angehörigen der deutschen Besatzung, zu ihnen Kontakt herzustellen, um Informationen zu beschaffen und - was ganz wichtig war - Soldaten herauszufinden, die gegen Hitler und den Krieg gesinnt sind, um sie zur Unterstützung der Résistance zu gewinnen.
Ich muss immer daran denken, als wir mit unserer kleinen Gruppe damit begannen. Wie verzweifelt und hoffnungslos schien unser Unterfangen zu sein. An diesen Anfang der Widerstandsarbeit erinnerte ich mich wieder am 8. Mai in Turin, längst durch den Aufstand der norditalienischen Bevölkerung befreit, als ich inmitten der jubelnden, tanzenden Menge, unter Mandolinenklängen das Bella-Ciao, das Avanti-Popolo, das Bandera-Rosa mitgesungen habe.

...der Versuch, die Wellen aufzuhalten
Ich musste an die Kapitulation denken, im Juni 1940 in Frankreich. Ich befand mich in einem der französischen Internierungslager, in die alle in Frankreich lebenden Deutschen kamen, ganz gleich, ob Antifaschisten oder Nazis, da sich seit September 1939 Frankreich im Kriegszustand mit Deutschland befand. Es war nicht allzu schwer, aus dem Internierungslager in der Gegend von Nimes herauszukommen. Ich bekam einen Kontakt mit Otto Niebergall in Toulouse. Ein deutscher Kommunist, ein ehemaliger Abgeordneter im Saargebiet bekannt, ein Haudegen. Später war er Chef der deutschen Gruppe in der Résistance. Es war wohl die hoffnungsloseste Situation, in der unsere Begegnung im Juli 1940 in Toulouse stattfand.
Die Hakenkreuzfahne flatterte auf dem Eifelturm, in fast allen Hauptstädten Europas, das in Blitzkriegen mit "relativ" wenigen Opfern erobert war, eine Neuordnung unter der Herrschaft einer "Eliterasse". Eine Situation, in der fast alle Staatshäupter der Welt glauben, sich mit Hitler arrangieren zu müssen, denn sein Endsieg sei sicher. Aber Otto Niebergall sagte mir, was unsere Aufgabe in diesem jetzt von Deutschen besetzten Land sein müsste. Es wird Widerstand geben und wir müssen an dessen Seite sein. Wir hätten die Aufgabe, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, die Besatzersoldaten aufzuklären, unter ihnen antifaschistisch Gesinnte für den Widerstand zu gewinnen. Mir kam es so vor, als würden wir am Strand eines tobenden Meeres nun versuchen, die Wellen aufzuhalten. Doch wir hatten damit begonnen, wie gesagt, gleich danach mit unserer kleinen Gruppe, die sich in Paris zusammenfand. Aus einem Spielwarengeschäft beschafften wir uns einen Kinderdruckkasten. Auf Zigarettenpapier und Klebezettelchen stempelten wir kurze Losungen: "Nieder mit Hitler", "Schluss mit dem Krieg", "Begeht kein Verbrechen gegen Franzosen!"
Was bewirkten wir damals schon mit solchen Zettelchen? Sie sind natürlich von den Wehrmachtsangehörigen gefunden und gelesen worden. Wahrscheinlich gab es kaum eine andere Reaktion, als dass sie sich an die Stirn tippten. Mit Hitler, mit dem Krieg Schluß machen? Jetzt, wo sie vor dem Endsieg stehen, sie als Herren von Europa eine herrliche Zukunft haben!? Wenn sie in ihrem damaligen Siegeswahn mit riesigem, prallem Gepäck im Urlaub nach Haue kamen, welch eine Freude in der Familie, sobald sie auspackten! Geraubte Luxuswaren, von denen man sonst nur träumen konnte.
Kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion kam ich mit einem Soldaten ins Gespräch, dem ich erläutern musste, wieso ich als "Franzose" so gut deutsch sprach. Er sei ein Bauer und freue sich schon auf sein Gut in der Ukraine oder auf der Krim, wo er dann Russen unter sich habe, die für ihn arbeiten. Gab es doch keinen Zweifel, auch dieses riesige Land in einigen Monaten im Blitzkrieg zu besiegen. Welch eine herrliche Zukunft malten sie sich aus. Aber es änderte sich. Die Rückschläge und Verluste der Wehrmacht an der Ostfront, die Erfolge der sowjetischen Armee, gaben den Widerstands-, den Befreiungsbewegungen in allen okkupierten Ländern, die sich überall nur allmählich entwickelten, einen mächtigen Auftrieb. Das geschah in Frankreich besonders, als dieses Land mehr und mehr ausgeplündert wurde. Vor allem, als dann noch jeder im arbeitsfähigen Alter zur Arbeit nach Deutschland verpflichtet wurde - STO-Service traival obligatoire (Verpflichtet zur Arbeit in Deutschland) - dann zogen viele vor in die Wälder zu gehen, auf französisch Maquis. So nannten sich die bewaffneten Widerstandsgruppen in den schwer zugänglichen Gebieten wie den Alpen, den Pyrénen, dem Massiv-Centrale, dem Jura, den Vogesen und Cevennen.

Das Europa der Resistance
Unter den Kämpfern, die "Marquisards" hießen, entfaltete sich die Résistance zu einer Massenbewegung. Dort waren auch wir Deutschen an ihrer Seite nicht mehr eine kleine Gruppe, sondern schon mehrere Hunderte. Unsere Flugblätter und Zeitungen in deutscher Sprache erschienen nun in Massen, in hoher Auflage, jetzt von den illegalen Druckereien der Résistance hergstellt und mit Hilfe der bewaffneten Gruppen der Partisanen des "Maquis" auf abenteuerlichen Wegen zu den Angehörigen der Wehrmacht gebracht. Da erst entstand eine ganz andere objektive Situation, um Soldaten und Offiziere zur Unterstützung der Résistance zu gewinnen. Nun hatten sie, die bislang "wie Gott in Frankreich lebten" auf einmal Angst, an die Ostfront verlagert zu werden, d.h. auf die Schlachtfelder, in den Tod.
Im Sommer 1943 war die "Bewegung Freies Deutschland für den Westen" gegründet worden, CALP (Comité allemand pour l'Ouest), eine Zusammenfassung von Hitlergegnern unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer wie weltanschaulicher Richtung, darunter manch hoher Offizier. Unsere Hauptlosung war: Geordneter, bewaffneter Rückmarsch hinter die deutsche Reichsgrenze, Hitler stürzen den Krieg beenden. Damit Deutschland lebe, muss Hitler fallen! Es war die Situation nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad, des Untergangs der 6. Armee, das Licht, welches wir endlich im Dunkel sahen. Was hat es uns an Hoffnung und Kraft gegeben! Insbesondere durchzuhalten, als ich in diesen Wochen in den Händen der Gestapo war, schlimm gefoltert, das Todesurteil sicher. Doch ich konnte entkommen, da es mir gelang die Gestapo in eine Falle zu führen. Die Gewissheit nun, dass sich erfüllt was Otto Niebergall 1940 prophezeite: Der Aufstand, die Befreiung gingen voran, die Sonne ging auf!
Der Befreiungskampf erfasste alle von den Hitlerarmeen eroberten Länder. Schließlich gehörten der Résistance in ganz Europa Millionen Freiheitskämpfer/innen an, die im Verlauf des Krieges zu einer mächtigen Kraft wurden und eine große Bedeutung für die Antihitlerkoalition hatten, indem sie ihre Front verbreiterten und stabilisierten. Es war das Europa der Résistance, wie es "Le combat", die illegale Zeitung der französische Résistance im Dezember 1943 beschrieben hat."Vom Nordcap bis zur Pyrenäengrenze, von der Kanalküste bis zum Ägäischen Meer, stehen Millionen Menschen, wie verschieden ihre Sitten und ihre Sprache auch sein mögen, in dem selben Kampf gegen denselben Feind, im Kampf der Freiheit gegen die Sklaverei, der Gerechtigkeit gegen das Unrecht, des Rechts gegen Gewalt. Wir sind Zeugen eines Wunders, eines gewaltigen Wunders, das aus Blut und Tränen hervorgegangen ist. Es ist das Wunder des Widerstandes."
Zu ihm gehört ebenbürtig mit seinen Leiden und 800.000 Opfern der antifaschistische deutsche Widerstand. Der direkte militärische Beitrag des Europas der Résistance zur Zerschmetterung der gewaltigen Wehrmacht des deutschen Faschismus war enorm. "Die französische Résistance hat mir 15 Divisionen erspart", erklärte später General Eisenhower, Kommandeur der alliierten Streitkräfte der Zweiten Front im Westen. Diese Aussage ermöglicht in etwa eine Vorstellung davon, wie viele Kräfte der Hitlerarmeen gebunden waren, welche Hilfe es für die Streitkräfte der Antihitlerkoalition war.
Kann man sich vorstellen, wie wir die rasche, endgültige Niederlage des Hitlerreiches ersehnten?! Was es für uns damals bedeutete, wenn BBC-London und Radio Moskau an den Fronten Siege meldeten?! Als das dumpfe Klopfzeichen der BBC-London tatsächlich die Meldung brachte: "Im Morgengrauen sind an der französischen Kanalküste amerikanische, englische und kanadische Truppen gelandet und haben erfolgreich mehrere Landeköpfe gebildet." Was war das für ein Aufatmen, für ein Aufjauchzen. Das Kriegsende naht! Wir waren gewiss, bald kommt das Signal zum Aufstand!

Paris libre!
Tatsächlich kam Mitte August 1944 das Signal, der Aufstand wurde begonnen mit dem Streik der Pariser Polizei. Wir sahen die Trikolore flattern an den Häusern, die Männer, Frauen, Kinder, die alles Mögliche herbei schleppten, um Barrikaden in den wichtigsten Durchgangsstraßen zu errichten. Deutsche Truppen wurden eingekesselt wund versuchten immer wieder mit Panzern auszubrechen, mehrere wurden mit Molotowcocktails in Brand gesetzt. Otto Niebergall hatte den Kontakt mit dem Kommandostab des Aufstands. Unser Appell an die Deutschen, sich zu ergeben, ging über Radio Paris. Wir waren mit etwa 100 Deutschen am Aufstand von Paris beteiligt, beauftragt mit weißer Fahne als Parlamentäre zu den Eingekesselten zu gelangen, um sie zur Aufgabe zu überreden und um die vorbereiteten Sprengungen zu verhindern. Wir gaben uns als Franzosen und Beauftragte der FFI, der Forces Francaises Interieures (Französische innere Streitkräfte) aus, waren aber auch der Gefahr ausgesetzt als Deutsche erkannt und erschossen zu werden. Mit uns lehnten die Offiziere jegliche Verhandlungen ab, sie hofften noch auf Unterstützung von deutschen Streitkräften auf dem Wege nach Paris. Ergeben würden sie sich allenfalls den Amerikanern, nicht den Franzosen, weil viele der Propaganda glaubten, von ihnen massakriert zu werden. Nur in einem Fall hatten wir Erfolg.
In einem Tunnel des Parc des Buttes Chaumont im 19. Arrondisement (Stadtbezirk) hatten sich deutsche Truppen verschanzt. Sie saßen in einer Mausefalle. Nach Verhandlungen mit unseren Parlamentären ergaben sie sich.
Tage darauf stand ich inmitten von zwei Millionen glückstrahlenden, sich gegenseitig umarmenden jubelnden Menschen: "Paris libre!" Es war das erhabenste Erlebnis in meinem Leben. Hätte es doch auch in Deutschland ein solches Erlebnis gegeben! Lange Zeit hatten wir im Widerstand davon geträumt. Es war unsere Vision, unser Traum, der Krieg könnte so enden, wie der erste Weltkrieg, mit dem Aufstand der deutschen Bevölkerung, so ähnlich wie die Novemberrevolution. An ihrer Seite stünden noch 8 Millionen verschleppte Zwangsarbeiter/innen. Aber es war auch der Alptraum der deutschen Kapitalmächte, der eigentlichen Verursacher und Nutznießer des Nazifaschismus, die ja 1918 vor dem Abgrund gestanden hatten So darf dieser Krieg nicht enden, dachten sie. Wie wäre die gesamte Nachkriegsgeschichte wohl verlaufen, wenn der Krieg mit eigener Kraft beendet worden wäre? Stattt dessen mussten dies die anderen Völker herbeiführen, das sowjetische Volk hat es allein mit dem Opfer von 25 Millionen seiner Menschen bezahlt.

Deutschland befreit?
An der Mauer der Gedächtnisstätte des Preungesheimer Gefängnis in Frankfurt am Main, an der Stelle, an der die Guillotine stand, mit der Hunderte Antifaschisten hingerichtet wurden, standen die Worte der Schriftstellerin Ricarda Huch: "Nicht erhob sich das Volk, denen Freiheit und Leben zu retten, die ihre Freiheit und Leben für das Volk hingaben." Das ist die eigentlich große Tragik in jüngster deutscher Geschichte. Keine Wut, kein Zorn entlud sich in der deutschen Bevölkerung gegen die Hauptverantwortlichen des grausamsten Krieges in der Weltgeschichte, die so viel an Not und Tod, an Verwüstung und Vernichtung über ganz Europa, wie auch über das eigene Land brachten. Nicht die deutsche Bevölkerung bestrafte die bestialischen Verbrecher aus ihrer Mitte. Nein, es gab gegen die Massenmörder keinen Zorn, keine Aufgebrachtheit, keine Erbitterung, keine Wut, sondern vielmehr Mitleid mit den Verurteilten in den Kriegsverbrecherprozessen der alliierten Militärgerichte.
Dadurch erklärt sich der reibungslose Übergang vom Dritten Reich in die Bundesrepublik, in der ehemalige hohe Funktionäre, die ihre Fähigkeiten dem Führer und der SS zur Verfügung gestellt hatten, alles werden konnten, in die entscheidenden Stellen kamen. Sie waren führend in der Ministerialbürokratie, der Verwaltung, der Wirtschaft, der Justiz, der Hochschulen, der Medien, sie bauten die Geheimdienste und das Militär auf und organisierten das Verschweigen der Nazivergangenheit. Der von Hitler propagierte und mit Antisemitismus verknüpfte Antikommunismus, wurde bis auf den Judenhass übernommen, es blieb nur die bolschewistische Gefahr, die Bedrohung aus dem Osten. Offiziell, vielleicht sogar aufrichtig, schämte man sich des Antisemitismus, wenn er auch unterschwellig weiter schwelte, aber mit der Gefahr aus dem Osten, mit Hilfe des Antikommunismus wurde die Restauration und die Wiederaufrüstung, das Wiedererwecken des Militarismus begründet. In meiner Erinnerung lebt die Rückkehr nach Deutschland, in die Trümmerlandschaft meiner Heimatstadt Frankfurt am Main, gleich nach der Befreiung. Ich spürte, wie ich in meiner Umgebung unwillkommen war. Im Wiedersehen mit den Überlebenden des Widerstandes, aus dem kommunistischen Jugendverband, aus der Gewerkschaftsjugend, fielen wir uns in die Arme und konnten uns nicht genug gegenseitig ausfragen, was jeder durchlebte. In der Bevölkerung meiner Umgebung spürte ich die Eiseskälte, niemand hatte mich je gefragt, was meiner Familie geschah, wie ich überlebte, aber sie erzählten mir, wie sehr sie gelitten hatten, wenn wir überhaupt ins Gespräch kamen. Vor allem hörte ich immer wieder, dass sie von nichts gewusst haben. Das war so symptomatisch in den ersten Jahren der Nachkriegszeit, dieses allgemeine "nichts gewusst haben" und das Schweigen über die NS-Vergangenheit. was denn damals eigentlich geschehen war, zwischen 1933 und 45. Peter Gingold am 9. 4. in Rosenberg
Auch ich schwieg über meine Vergangenheit gegenüber denen, die mir fremd waren. Dafür interessierte sich auch niemand, außer meinen Freunden. Wohl sagte es mir keiner ins Gesicht, aber ich spürte es, sie hätten es eher gewünscht, dass wir endgültig verschwunden wären, sahen sie doch in den Überlebenden aus den KZ, den Kerkern, aus dem Exil Zurückgekehrten so etwas wie Ankläger, die ein schlechtes Gewissen weckten, wenn es überhaupt eins gab. Galten doch wir alle, die auf der anderen Seite kämpften, auch die im Kerker und KZ saßen, natürlich vor allem die Deserteure, die sich weigerten den verbrecherischen Krieg weiterhin mitzumachen, als Landesverräter. Vielleicht sehen mich diese ehemaligen Offiziere, welche ich in der Normandie traf, heute noch so.

Der 8. Mai muss im Gedächtnis bleiben!
Es bedurfte schon einer vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste, bis neue Generationen heranwuchsen, die es erst einem Bundespräsidenten möglich machten, am 40. Jahrestag des 8. Mai vom Tag der Befreiung zu sprechen, was ihm aus den eigenen Reihen seiner Partei, der CDU, einen Sturm der Entrüstung einbrachte. Aber welche eine Hoffnung erzeugt das, was sich nun verändert hat. Heute kann ich gegenüber der Jugend alles sagen, auch ihnen sagen, wer in Wirklichkeit Landesverrat beging, nämlich alle, die sich an den Verbrechen des Hitlerregimes beteiligten, die sich willfährig hierfür zur Verfügung stellten. Eigentlich müsste ich sagen, wer keinen Widerstand leistete, beging Landesverrat. Aber so weit will ich nicht gehen.
Doch gegenüber den Jugendlichen füge ich hinzu: Deinem Großvater oder deinem Urgroßvater, der in der Hitlerarmee kämpfte, würde ich nie einen Vorwurf machen, war er doch zwangsweise eingezogen. Er war auch damals jung, hatte vielleicht mit Begeisterung gekämpft, wirklich geglaubt, "Volk und Vaterland" gegen den drohenden Feind des "Judäo-Bolschewismus" zu verteidigen, sich selbst als Patriot gesehen. Das würde ich ihm nie vorwerfen. Mir hätte dasselbe passieren können, wenn ich anders beeinflußt aufgewachsen wäre. So selbstgerecht will ich nicht sein. Aber es gäbe keine Entschuldigung dafür, wenn er heute noch, nach mehr als einem halben Jahrhundert nicht weiß, dass er mit seinen damaligen "vaterländischen" Gefühlen für einen verbrecherischen Krieg missbraucht worden ist und heute als Zeitzeuge nicht dazu beiträgt, dass sich nicht ähnliches wiederhole. Und darum geht es! Dazu könnte das Begehen des 60. Jahrestages des 8. Mai wesentlich beitragen. Wie wichtig ist das Erinnern an diesen Tag! Wie wichtig das Erinnern an die Befreiung Europas und Deutschlands von der Hitlerbarbarei, an die Rotarmisten und US-Soldaten in Torgau an der Elbe, die sich die Hände reichten; das Nazireich war untergegangen, die menschliche Zivilisation gerettet: Für alle Ewigkeiten muss im Gedächtnis der Menschheit verankert bleiben: Dieses Morgenrot der Menschheit, dieser Jubel, der ganz Europa, ja die ganze Welt erfasste, aber auch dass es ihn in Deutschland nicht gab. Dieses Erinnern hat eine große Bedeutung für die Fähigkeit und Bereitschaft, bei der Schaffung und Entstehung eines Deutschlands mitzuhelfen, welches wir erträumt hatten, ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland, in dem nie, nie mehr aufkommen kann, was zu diesem entsetzlichen, blutigen, schändlichen Kapitel deutscher Geschichte führte, in dem für alle Zukunft niemand mehr in Angst leben muss, jemals von Faschismus und Krieg bedroht zu sein. In mehreren Ländern Europas ist der 8. Mai ein Feiertag. Er müsste eigentlich der nationale Feiertag Deutschlands sein. Mehr als tausend Gründe gäbe es.

Peter Gingold ist heute einer der Bundessprecher der VVN-BdA. Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen um einige Passagen gekürzten Abdruck aus dem neu erschienen Buch von Michael Klundt (Hg.): Ein Untergang als Befreiung. Der 8. Mai 1945 und die Folgen.

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