VVN-Logo VVN-BdA Baden-Württemberg, Böblinger Strasse 195, D-70199 Stuttgart / Tel. 0711/603237 Fax 600718 15.01.2009
antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 4 / Dezember 2008



Auschwitz-Zeitzeuge Hugo Höllenreiner bei ver.di in Karlsruhe:

"Ich wusste ja: Wenn ein Hund bellt, werd ich erschossen."

Dietrich Schulze

Ein bewegender Dezember-Samstagnachmittag im Karlsruher ver.di-Haus. Hugo Höllenreiner aus Ingolstadt spricht vor über 50 Zuhörern über seine Verfolgung durch den Hitlerfa-schismus, als 9-jähriger Sinto-Junge nach Auschwitz deportiert. "Ich be-richte über mein Leben in den Konzentrationslagern der Nazis, weil ich nicht will, dass jemals wieder einem Menschen auf der Welt so etwas pas-siert. Nie wieder."
Und dann erzählt er mit leiser Stimme wie er im März 1943 mit seiner Fami-lie nach Auschwitz deportiert wird. Fünf Tage lang dauert die Fahrt von München nach Auschwitz. 60 Men-schen, stehend eingepfercht in einen Viehwaggon, ohne Essen, Wasser und Klo. Hugos Großmutter überlebt die Fahrt nicht.
In wenigen Monaten, konfrontiert mit unvorstellbaren Verbrechen, war Hu-go zum Erwachsenen geworden. Ein Schlüsselereignis, als er im Februar 1945 von seiner Familie getrennt auf Transport geschickt werden sollte, schildert er so ( ):
"Ich hab bloß geweint. Wo ist meine Familie? Ich hab versprochen, auf meine Familie aufzupassen. ...... Ich wollt nicht mehr leben. Meine Familie ist ohne mich. Sie stirbt ohne mich und ich muss was tun. .... Da kam der SS-Mann rein und hat mich gesehen. Dabei hab ich geschluchzt und ge-weint. Lauft vorbei, dreht sich um, lauft wieder vorbei, stoßt mit dem Fuß den Mann neben mir an. Der Mann dreht sich um. Und schießt ihm in den Kopf. Der auf mich aufgepasst hat. Der mir sein Essen auch manchmal gegeben hat. ..... Und dann hat es ein paar Tage später geheißen, ihr kommt weg. Ich dachte mir, nein, ich bleib hier. Meine Familie ist hier. Lie-ber sollen sie mich erschießen. ..... Die Geste hat mir gezeigt, dass ich mitgehen soll. Da dacht ich, jetzt lauf ich halt mal mit. Und komme auf ei-nem Güterbahnhof an. Da hab ich von weitem Güterwaggons gesehen, viel-leicht so zwanzig, dreißig. Da dacht ich, ich fahr nicht mit, nein. Wo soll ich denn hin? Jetzt bin ich ganz alleine. Und hab so Gedanken gehabt. Und schau vor. Da seh ich ganz vorne, das könnte vielleicht meine Schwester sein. Da hab ich vor geschaut. War's die Frieda! Dacht ich mir: jetzt kann ich nur noch eins machen. Ich lauf jetzt hin. Werd ich erschossen, werd ich erschossen. Ohne meine Familie geh ich nicht weg. Bin raus. Meine Freunde haben mich noch festgehal-ten. Und bin gelaufen. Links SS, rechts SS. Da die Hunde, da die Hun-de. Mitten durch bin ich gelaufen. Schritt für Schritt. Ich dachte mir: noch ein Schritt, noch ein Schritt. Kein Hundegebell. Kein Schießen. Gar nichts. Ich wusste ja: Wenn ein Hund bellt, werd ich erschossen. Und lauf bis zu meiner Schwester hin. Wo ist die Mama? Sie hat mich gleich mitgenommen zu ihr. Das Wiedersehen, das kann ich Euch sagen .... da war sie vor dem Viehwaggon gestanden. Schnell, geh rein, Junge. Bin rein. Hab mich ganz rechts in die Ecke ge-setzt und gewartet, bis die Mama und die Geschwister rein kommen. Mama hat sich vor mich hingesetzt und ich hab sie von rückwärts umschlungen und hab sie geküsst. Mama, ich geh nie mehr weg, Mama, von Dir."

Elfjähriger Sinto-Junge trotzt SS-Befehl
Man muss versuchen, sich diese dramatische Szene vorzustellen. Hu-go hatte einem SS-Befehl zuwider gehandelt. Er war von der zum Transport vorgesehenen Gruppe weggelaufen. Das äußerst unwahrscheinliche geschah: Kein einziger der Wachhunde hatte angeschlagen, weil Hugo weder zu ängstlich noch zu forsch vorangeschritten war. Und die SS-Schergen waren vom Mut des Jungen, den sie in ihren Herzen längst getötet hatten, offensichtlich selber beeindruckt. Diese aus dem inneren Kampf von Gegensätzen ge-borene Mischung aus Entschlossenheit und Vorsicht, mit der das erwachsene Kind durch die SS-Postenkette schritt, hat ihm wohl das Leben geret-tet.
Mit atemloser Spannung folgen die Zuhörer dem 100-minütigen Bericht des Zeitzeugen. Hugo Höllenreiner, Auschwitzhäftling Z-3529, spricht dar-über, wie er von der lächelnden SS-Bestie Dr. Mengele zu medizinischen Versuchszwecken operiert wurde. Darüber wie anderen Jungens Augen ausgeschnitten und Geschlechtsteile wegoperiert wurden. Wie Mütter mit ihren Baby's gemordet wurden, mit Baggern Erde darüber geschoben und wie er sah, dass sich die Erde noch bewegte. Einmal ein dumpfer Schlag und danach Stille. Er war ge-wahr geworden, dass ein SS-Mann ein Baby an die Wand geschlagen hatte, und er sah, dass das Gehirn ausgetreten war. Als Zehnjähriger musste er Leichen schleppen, die teilweise stark verwest waren. Er wur-de Zeuge vieler furchtbarer Verbre-chen, die sich unauslöschlich in seine Psyche eingegraben haben.

Widerstandsaktion in Auschwitz
Aber er erlebte auch eine Wider-standsaktion vom Sinti- und Roma-Häftlingen, an der sein mutiger Vater beteiligt war. Im Mai 1944 hatte die Lagerleitung beschlossen, das "Zigeunerlager" aufzulösen und alle Insas-sen umzubringen, um Platz für unga-rische Juden zu schaffen. Drei Bara-cken waren bereits geleert und zum Krematorium abtransportiert worden. Hugo berichtet: "Papa stand unten, gerade, mit dem Pickel in den Hän-den, und einer seiner Brüder mit ei-nem Schaufelstiel, einer links, einer rechts. Draußen gingen sie auf das Tor zu, bestimmt sieben, acht Mann. Der Papa hat einen Schrei losgelas-sen. Die ganze Baracke hat gezittert, so hat er geschrieen: ›Wir kommen nicht raus! Kommt ihr rein! Wir warten hier! Wenn ihr was wollt, müsst ihr reinkommen!‹ Die blieben stehen, es war still. Nach einer Weile kam ein Motorrad angefahren, die unterhielten sich draußen. Dann sind sie wegge-fahren, der Lastwagen ist weiterge-fahren. Wir haben alle aufgeatmet. Die anderen sechs Brüder von Papa waren in anderen Blöcken. ...... Da bin ich heute noch stolz drauf, das hat es selten gegeben, dass sich die Leute gewehrt haben."
Der Vater hatte sich zum Wehrmacht-Strafbataillon Dirlewanger (Häftlings-jargon "Kanonenfutter") gemeldet. Die Familie entkam damit einmal mehr dem Tod. Sie wurde jedoch nicht ent-lassen, sondern weiter "auf Transport" geschickt. Die KZ-Stationen: Ravens-brück, Mauthausen und schließlich das Hungerlager Bergen-Belsen, wo sie von der britischen Armee befreit werden. In der Nacht, in der er meint, nicht mehr weiter leben zu können, nachdem er schon zwei Tage lang nicht mehr aufstehen konnte, hört er es rufen "You are free." Vom Hunger geschwächt, an der Grenze zwischen Leben und Tod, rappelt er sich hoch, sieht die Panzer am Tor, schleppt sich wenige Meter aus der Baracke und bricht zusammen.

Diskriminierung auch nach der Befreiung
Die Großfamilie Höllenreiner hat 36 Mitglieder verloren. Der elfjährige Hu-go, seine fünf Geschwister und die El-tern überlebten. Als die Familie nach München zurückkehrte, waren alle krank. Sie standen vor dem Nichts, lit-ten unter psychischen und physischen Verletzungen, unter den Folgen von Misshandlungen, Zwangssterilisation, Kälte und Hunger. Und wie lief es mit der Wiedergutma-chung? Nicht der Rede wert, 5000 DM und eine kleine Rente. Keinerlei behördliche Gedanken daran, den von den Nazis enteigneten Pferdehandel samt Wohnhaus zu entschädi-gen. Wohl aber Fortsetzung der Dis-kriminierung durch Beamte, die schon den Nazis gedient hatten und die z.B. gesundheitliche Schäden in Nazimanier nicht als haftbedingt, sondern als anlagebedingt einstuften.
Wie oft bei Überlebenden der KZ-Lager, konnte Hugo Höllenreiner lan-ge nicht über das Erlittene sprechen. 1993 auf einer Kundgebung in Mün-chen gelang es ihm erstmals, das tief Vergrabene an die Oberfläche zu ho-len. Seitdem hat er immer wieder Be-richt erstattet, auf Veranstaltungen, vor Schulklassen. Die Journalistin An-ja Tuckermann hat 2005 ein Buch über sein Leben geschrieben: "Denk nicht, wir bleiben hier! Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenrei-ner". Hanser-Verlag. Unter großem Beifall der Versammelten bedankt sich Jürgen Ziegler, ver.di-Geschäftsführer, bei Hugo Höllenreiner für diese einmalige Geschichtsstunde, und erklärte stellvertretend für die Anwesenden, dass wir den Kampf verstärken werden, damit sich so etwas nie wiederholt.

Besuch im Dokumentationszentrum
Vorangegangen war dem Zeitzeugen-Gespräch ein Besuch im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Silvio Peritore führte die 30-köpfige Gewerkschaftergruppe sachkundig durch die beeindruckende Ausstellung über den Leidensweg der Sinti und Roma unter dem deutschen Faschismus. Beeindruckend vor allem deswegen, weil durchgängig der rassistischen Vernichtungsideologie Bilder aus dem Leben und dem Alltag von Sinti- und Roma-Familien gegenüber gestellt werden. In diesem Spannungsfeld wird die Verlogenheit der Nazi-Propaganda, die derjenigen gegenüber der jüdischen Bevölkerung in nichts nachstand, sehr wirkungsvoll entlarvt. Immer wieder gelingt es Herrn Peritore, interessante aktuelle Bezüge herzustellen. Bezeichnend sei es zum Beispiel, dass es keinen Aufschrei der Empörung gegeben habe, als sich im Frühjahr Mitglieder der Berlusconi-Regierung und der italienische Parlamentspräsident rassistisch gegenüber Sinti und Roma geäußert hatten. Noch immer werden Sinti und Roma als Opfer zweiter Klasse angesehen und schon wieder werden sie in EU-Ländern zu Sündenböcken gemacht. Er erinnerte auch daran, dass die staatliche Diskriminierung der Sinti und Roma in der Nachkriegs-Bundesrepublik fortgesetzt worden. In einem empörenden Urteil erklärte der Bundesgerichtshof 1956, die "Zigeuner neigen zur Kriminalität". Auch diese Altlast aus der Zeit des Kalten Krieges konnte erst langsam überwunden werden. Umso wichtiger ist es, gegen das Vergessen anzukämpfen. In diesem Sinne legte Jürgen Ziegler für die gewerkschaftliche Besuchergruppe Blumen am Mahnmal im Dokumentationszentrum nieder.

NPD-Verbot, jetzt!
Bleibt noch nachzutragen, dass Hugo Höllenreiner aktives Mitglied der VVN-Bund der Antifaschisten ist und regelmäßig an Demonstrationen und Aktionen gegen Nazi-Auftritte mitwirkt. Wir alle müssen mithelfen, mehr Menschen für die demokratische Gegenwehr gegen Rechts zu gewinnen. Dazu gibt es nach dem Mordanschlag auf den Passauer Polizeipräsidenten einen weiteren gewichtigen Grund. Auf die Tagesordnung des Bundestags gehört jetzt dringlich, das NPD-Verbot durchzusetzen als ersten Schritt für die Auflösung aller rechtsradikalen/neofaschistischen Organisationen/Gruppen und ihrer Publikationen.

VVN-Logo www.vvn-bda-bawue.de © 1997 - 2009 www.josef-kaiser.eu