VVN-Logo VVN-BdA Baden-Württemberg, Böblinger Strasse 195, D-70199 Stuttgart / Tel. 0711/603237 Fax 600718 30.11.2009
antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 3 / November 2009



Geschichtsrevisionismus als europäische Staatsdoktrin?

Hat Stalin den 2. Weltkrieg vom Zaun gebrochen?

Friedl Garscha

Seit 2008 laufen im EU-Parlament Bemühungen (die vor allem von den ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken ausgehen, aber auch in anderen Delegationen Unterstützung fanden) zu einer Revision des quasi-offiziellen Geschichtsbildes der Europäischen Union.

Relativierung des Holocaust
Ein erster Resolutionsentwurf, mit dem der 23. August als europäischer Gedenktag verankert werden sollte, wurde im August und September vorigen Jahres von 409 der 736 Abgeordneten des EU-Parlaments unterzeichnet. Mit dieser Resolution stellten die EU-Abgeordneten die stalinistischen Verbrechen mit dem nationalsozialistischen Völkermord auf eine Stufe, indem - unter Berufung auf ,,Massendeportationen, Mord und Versklavung, begangen im Kontext der Aggressionsakte von Stalinismus und Nazismus" - die Proklamation eines "europäischen Gedenktags zum Gedächtnis an die Opfer von Stalinismus und Nazismus" verlangt wurde, "um die Erinnerung an die Opfer von Massendeportationen und Vernichtung zu bewahren und gleichzeitig die Demokratie fester zu verankern und Friede und Stabilität auf unserem Kontinent zu stärken". Nur wenige Wochen später, am 23. Oktober 2008, setzten die Abgeordneten einen weiteren Schritt in diese Richtung, indem - in einer an das ukrainische Volk gerichteten Deklaration - die von den stalinistischen Behörden im Zuge der Zwangskollektivierung mit verursachte Hungerkatastrophe in der Ukraine (1932133) dem Holocaust gleichgestellt wurde; die EU-Abgeordneten übernahmen zu diesem Zweck auch das von ukrainisch-nationalistischen Kräften geprägte, gewiss nicht zufällig an den Begriff ,,Holocaust" angelehnte Kunstwort "Holdomor" ins Englische. Der neue Begriff wurde aus den ukrainischen Wörtern für Hunger ("holod") und Seuche ("mor") gebildet.
(…) Der nächste Akt war eine Entschließung des Europäischen Parlaments zum "Gewissen Europas und zum Totalitarismus", in der die Abgeordneten am 2. April 2009 zwar feststellten, dass "offizielle politische Auslegungen historischer Fakten nicht durch Mehrheitsbeschlüsse von Parlamenten aufgezwungen werden sollten", gleichzeitig aber ausgerechnet den 23. August zum "europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime" erklärten und appellierten, diesen Gedenktag "in Würde und unparteiisch" zu begehen. In der langen Aufzählung der Untaten der "totalitären und autoritären Regime" und der allgemeinen Feststellung, dass es "Millionen von Opfern" gebe, die während des 20. Jahrhundert in Europa "deportiert, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden", versteckten die Verfasser der Resolution auch einen Hinweis darauf, dass "der einzigartige Charakter des Holocaust nichtsdestoweniger anerkannt werden muss".

War Stalin schuld am Krieg?
Diese Hervorhebung des Holocaust lag einigen Abgeordneten aber offenbar immer noch zu sehr auf der bisherigen Linie, die gemeinsame europäische Erinnerungskultur vor allem um die Auseinandersetzung mit Holocaust und Kriegsverbrechen herum zu entwickeln. Den "einzigartigen Charakter" des Holocaust anzuerkennen, "verträgt" sich nicht mit dem Ziel, den Stalinismus mit dem Nationalsozialismus auf eine Stufe zu stellen. Daher wurde - diesmal über den Umweg der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - ein neuerlicher Versuch unternommen, Stalin und Hitler als die beiden Verursacher des Zweiten Weltkrieges hinzustellen.
Bis in den August 1939 hinein hatte sich die UdSSR um ein System der kollektiven Sicherheit in Europa bemüht, das aber voraussetzte, dass England und Frankreich von ihrer Konzessionsbereitschaft gegenüber Hitler-Deutschland (dem sie schon ihren Verbündeten Tschechoslowakei ausgeliefert hatten) abrückten und ihren polnischen Verbündeten zu einem Kompromiss mit der Sowjetunion drängten. Angesichts der Erfahrung der noch nicht einmal zwei Jahrzehnte zurückliegenden britisch-französischen Versuche, die junge Sowjetrepublik durch militärische Interventionen zu erdrosseln, und angesichts der 1938/39 deutlich gewordenen Bereitschaft der Regierungen in London und Paris, Hitler gewähren zu lassen, so lange sich seine Aggression gegen Osten richtete, ist das Misstrauen der sowjetischen Führung gegenüber den Westmachten nicht weiter verwunderlich. Inwieweit die Bereitschaft Stalins, auf das Angebot Hitlers zum Abschluss eines Nichtangriffspakts einzugehen und in geheimen Zusatzprotokollen "Interessensphären" in Osteuropa abzustecken, den ohnehin fest stehenden deutschen Angriffsplan gegen Polen beeinflusst und den deutschen Vernichtungskrieg gegen die polnische Bevölkerung gefördert hat, ist in der Geschichtsschreibung nach wie vor umstritten. Aber selbst diejenigen, die das Entgegenkommen Moskaus gegenüber Nazi-Deutschland grundsätzlich kritischer bewerten als jenes von London und Paris, haben auch im Nachhinein keine "Patentlösung" für die Frage, wie die sowjetische Führung angesichts des bevorstehenden deutschen Angriffs auf Polen verhindern hätte sollen, dass die Wehrmacht bis zur damaligen polnischen Ostgrenze, wenige Kilometer vor Minsk, vorrückt.
Während das EU-Parlament am 2. April noch eingeräumt hatte, "dass keine politische Institution und keine Partei ein Monopol für die Auslegung der Geschichte besitzt und für sich Objektivität beanspruchen kann", haben europäische Parlamentsabgeordnete drei Monate später ganz "demokratisch" den Historikerstreit entschieden und beschlossen, dass für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges Hitler und Stalin gleichermaßen verantwortlich sind.

Die kuriose ,,Erklärung von Vilnius"
Als die Parlamentarische Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) am 3. Juli 2009 in Vilnius tagte, stand auf der Tagesordnung unter anderem die Frage, wie des 70. Jahrestags des Kriegsbeginns 1939 gedacht werden solle. Eine litauische Abgeordnete brachte eine Resolution mit dem Titel "Zur Wiedervereinigung des geteilten Europas" ein, die zwar ursprünglich nur von einer Minderheit der Mitglieder dieses Gremiums unterstützt wurde, schließlich aber doch die erforderliche Mehrheit fand. Darin wird die ehemalige Sowjetunion (und als Rechtsnachfolger indirekt der OSZE-Mitgliedsstaat Russland) mitverantwortlich gemacht für die Provozierung des Zweiten Weltkriegs. Der Bezug zum Titel der Resolution wurde damit hergestellt, dass mit der "Aufteilung" Osteuropas unter Hitler und Stalin die Teilung Europas begonnen habe, die 1989 überwunden worden sei. Der in der Europäischen Union als Gedenktag festgelegte 23. August solle über die EU hinaus in ganz Europa zum "Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus" erklärt werden, wobei erneut "festgestellt" wurde, dass mit dem deutsch-sowjetischen Pakt die Massenvertreibungen und die Vernichtung ihren Anfang genommen hätten. (…)

Internationale Proteste
Die Internationale Föderation der Widerstandkampfer hat diese Geschichtsrevision in einer Erklärung zurückgewiesen und sich gegen die Scheinheiligkeit gewandt, die Etablierung eines derartigen reaktionären Geschichtsbildes als einen Akt der "Förderung der Menschenrechte" darzustellen.
Offenkundig bedurfte es dieser ,,Weiterentwicklung" der Erklärung des EU-Parlaments durch die Parlamentarische Versammlung der OSZE, dass auch andere um die Pflege der geschichtlichen Erinnerung bemühten Einrichtungen sich veranlasst sahen, auf die bereits in der Entschließung zum ,,Gewissen Europas und zum Totalitarismus" vom 2. April 2009 deutlich gewordene Stoßrichtung hinzuweisen. 1998 wurde auf Initiative des schwedischen Ministerpräsidenten Goran Persson eine zwischenstaatliche "Eingreiftruppe" zur gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit der Leugnung des Holocaust (Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research, ITF) gegründet, der inzwischen 27 Staaten angehören. Am 17.August 2009 hat der gegenwärtige Vorsitzende der "Task Force" für Holocaust-Erinnerung, der norwegische Diplomat Tom Vraalsen, eine Stellungnahme veröffentlicht, die aus der EU-Erklärung den Hinweis auf die Einzigartigkeit des Holocaust herausgreift: (…) "Im Licht des jüngsten Anwachsens des Revisionismus und von Versuchen, die Realität des Holocaust zu leugnen oder zu verkleinern, unterstreicht der Vorsitz der ITF die Bedeutung der Erinnerung an die Opfer des Holocaust und an diejenigen, die sich dagegen stellten, und fordert dazu auf, den Holocaust in all seinen Dimensionen zu studieren, einschließlich der Handlungen der Täter und ihrer Kollaborateure". Der Tag der Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes sei der von den Vereinten Nationen festgesetzte Internationale Gedenktag zur Ehrung der Holocaust-Opfer am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz - und nicht (aber das extra hervorzuheben, versagte sich der norwegische Diplomat) der 23. August.

Streit um ,,europäische Erinnerungskultur"
Über die Frage, ob einzig und allein "Auschwitz" zum Synonym für die "europäische Erinnerungskultur" werden soll, d.h. ob vom 20. Jahrhundert in erster Linie der Holocaust und der gemeinsame Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus im gemeinsamen historischen Gedächtnis der europäischen Völker bleiben sollen, kann man tatsachlich streiten - vor allem, da aus der Erinnerung an diesen gemeinsamen Kampf ja die Rolle der KommunistInnen "ausradiert" wird. Auch wenn es den gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Leitlinien der EU widerspricht, ist es beispielsweise nicht einzusehen, warum die sozial-, bildungs- und kulturpolitischen Leistungen der Arbeiterbewegung - in erster Linie der "Sozialstaat" europäischer Prägung - nicht ebenfalls Teil dieses gemeinsamen Gedächtnisses sein sollen. Aber um solche Ergänzungen geht es den Protagonisten des neuen EU-Geschichtsbildes nicht - sie wollen vielmehr ihre seinerzeitige Gegnerschaft zu den kommunistischen Regierungen damit "belohnt" sehen, dass die Westeuropäer endlich das Gleichheitszeichen zwischen Stalin und Hitler akzeptieren. Und sie wollen nicht an so unangenehme Aspekte des antikommunistischen Widerstands wie seine Anfälligkeit für den Antisemitismus, die in manchen Fällen zur direkten oder zumindest indirekten Kollaboration mit den nationalsozialistischen Besatzern führte, erinnert werden. Zu Zeiten westlicher "Entspannungspolitik" die von diesen Kräften als "Verrat" und als "Preisgabe" der antikommunistischen Opposition durch den Westen abgelehnt wurde, hatte das Un-Wort noch "Jalta" geheißen: Die ,,Aufteilung Europas" durch Churchill, Roosevelt und Stalin während der Krim-Konferenz im Januar 1945 wurde als "nationale Katastrophe" beklagt. Inzwischen in der EU "angekommen", mussten die osteuropäischen Protagonisten eines neuen europäischen Geschichtsbildes feststellen, dass in Westeuropa eine Gleichsetzung Churchills mit Stalin nicht so gerne gesehen wird. Auf sehr viel weniger Widerstand stößt die Gleichsetzung von Stalin mit Hitler und die Erklärung des 23. August zu einem Tag der Erinnerung, an dem der Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus gleichermaßen gedacht wird.
Es ist bezeichnend, dass diese Bemühungen von jenen Staaten ausgehen, in denen SS-Veteranen geehrt und Denkmäler der Roten Armee abgetragen werden. Aber die revisionistischen Kräfte in den drei kleinen baltischen Republiken könnten mit diesem Ansinnen nicht EU-weit durchdringen, wenn sie nicht mächtigere Fürsprecher hätten, die darin eine Chance erblicken, endlich den Antifaschismus europaweit zu ,,entsorgen".

Friedl Garscha, (aus der Zeitung des Bundesverbandes österreichischer Antifaschisten "Der neue Mahnruf", 7-8 / 2009.)

VVN-Logo www.vvn-bda-bawue.de © 1997 - 2009 www.josef-kaiser.eu