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Nummer 1 / Januar 2000


Kein Mensch ist illegal:

Gewerkschafter nimmt bedrohten Flüchtling auf

Klaus Hampel

Um der Abschiebung in die Türkei zu entgehen, floh der kurdische Asylbewerber Mustafa Bayat in die Illegalität. Er entging dem Zugriff der Polizei, als er Anfang November aus einem Wohnungsfenster sprang. Klaus Hampel sprach mit dem Stuttgarter Bezirksgeschäftsführer der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Bernd Riexinger und mit dem Mitglied der Stuttgarter Gruppe "Kein Mensch ist iIlegal", Christoph Gommel.

K.H.: Kollege Riexinger, Du hast einen von der Abschiebung bedrohten kurdischen Asylbewerber aufgenommen. Was waren Deine hauptsächlichen Motive?
B.R.: Mein zentrales Motiv ist, dass ich mich dafür einsetze, dass das Asylrecht wieder seine alte Gültigkeit erhält. Um dies zu erreichen, muss man Aktionen unterstützen, die in diese Richtung gehen. Ein zweites Motiv ist, dass es einen Widerspruch zwischen der Aussenpolitik der Bundesregierung und ihrer Asylpolitik gibt: auf der einen Seite Beteiligung an der Bombardierung Jugoslawiens und Lieferung von Panzern an die Türkei, auf der anderen Seite die restriktive Asylpolitik und das Gerede vom den "Scheinasylanten" - das ist Heuchelei.
K.H.: Du bist Bezirksgeschäftsführer der HBV in Stuttgart. Welche Rolle spielt Deine gewerkschaftliche Funktion in dieser Sache?
B.R.: Die Aktion, die ich in meiner gewerkschaftlichen Funktion unterstütze, soll ein Signal für Zivilcourage sein. Durch Herstellung von Öffentlichkeit erhöhen sich auch die Chancen für die Betroffenen.
K.H.: Jedes Jahr findet in Stuttgart der Tag des Flüchtlings im DGB-Haus statt. Welche Verantwortung haben die Gewerkschaften bezüglich des Flüchtlingsproblems und gegenüber den Flüchtlingen?
B.R.: Es steht den Gewerkschaften gut an, etwas für die Flüchtlinge zu tun, denn sie haben eine geschichtliche Verantwortung und Verpflichtung. Leider gerät dies oftmals in Vergessenheit. Wir müssen es deshalb immer wieder in die Organisation und in die Gesellschaft hineintragen. Wenn die Organisationen das Thema nicht in die Öffentlichkeit tragen, sind keine Veränderungen möglich.
K.H.: Wie beurteilst Du die bisherige Asylpolitik der Bundesregierung?
B.R.: Da gibt es keinen Zweifel: die neue Bundesregierung setzt die flüchtlingsfeindliche Politik der alten nahtlos fort und handelt im Einklang mit dem politischen Mainstream. Deshalb muß die Arbeit der Leute, die den Flüchtlingen helfen und die das Problem politisieren, gestärkt werden. Ich halte diese politische Arbeit für sehr bemerkenswert und unterstützungswürdig.
Die Kampagne "Kein Mensch ist illegal!" wurde im Juni 1977 von antirassistischen Gruppen und Flüchtlingsinitiativen bundesweit ins Leben gerufen.
K.H.: Christoph, Du bist Mitglied der Stuttgarter Gruppe von "Kein Mensch ist illegal". Seit wann gibts Euch und was sind Euere Aktionsschwerpunkte?
C.G.: Wir haben uns, ebenso wie das bundesweite Netz, 1977 gebildet und versuchen seitdem bewusst, zweigleisig zu agieren: zum einen organisieren wir konkreten Schutz für die illegalisierten Menschen und darüber hinaus leisten wir Aufklärungsarbeit und kämpfen politisch gegen die vom Staat immer systematischer betriebene Illegalisierung von Flüchtlingen.
K.H.: Arbeitet ihr dabei mit anderen Gruppen und Organisationen zusammen?
C.G.: Wir versuchen, nicht isoliert zu arbeiten und haben Kontakte zu Gewerkschaftern, Kirchenleuten, zu Gruppen der "Rest-Linken" und zu Antifa.Gruppen. Vor einem Jahr haben wir mit ihnen zusammen eine Demo in Stuttgart gegen die Abschiebung von Kurden in die Türkei organisiert. Vom Anspruch her geht es uns aber nicht nur um die kurdischen, sondern um alle bedrohten Flüchtlinge.
K.H.: 1993 wurde das Asylrecht verschärft. Steigt die Zahl der Illegalen seitdem?
C.G.: Noch ist das Asylrecht nicht abgeschafft, aber durch eklatante Verschäfungen müssen wir von einer steigenden Zahl Illegaler ausgehen. Durch die sog. Drittstaatenregelung spielen sich täglich dramatische Szenen an den östlichen Grenzen Deutschlands ab. Viele Flüchtlinge sind in der Neiße ertrunken.
K.H.: Was unternehmt ihr konkret, wenn Flüchtlinge untertauchen müssen?
C.G.: Zunächst klären wir über Anwälte die rechtliche Situation ab. Dann versuchen wir, private Schutzräume zu finden und sondieren die längerfristigen Perspektiven, z.B. ob ein Kirchenasyl möglich ist. Da sich dies in Stuttgart etwas schwierig gestaltet, sind wir nach Tübingen ausgewichen, wo wir Unterstützung durch die ESG (Evang. Studentengemeinde) erhalten. Sie übernehmen z.B. teilweise unsere Anwaltskosten.
K.H.: Wie kam der Kontakt zu dem betroffenen Flüchtling Mustafa Bayat zustande?
C.G.: Mustafa hatte Kontakt zum sog. Wanderkirchenasyl in NRW. Begonnen im Jahr 1998 mit 12 Menschen in der Kölner Antoniterkirche weitete sich das Wanderkirchenasyl im Lauf des letzten Jahres zum größten Widerstand gegen Abschiebungen in der Geschichte der BRD aus. Mehr als 400 kurdische Flüchtlinge waren am Ende daran beteiligt. Sie wurden unterstützt durch mehr als 40 Kirchengemeinden und durch das Netzwerk "Kein Mensch ist illegal". Erreicht wurde immerhin, dass bisher keiner der Beteiligten Flüchtlinge in die Türkei abgeschoben wurde und mehr als ein Dutzend der Flüchtlinge legalisiert werden konnten.
K.H.: Welche Perspektive hat Mustafa Bayat?
C.G.: Wir können Mustafa vorerst in privatem Wohnraum schützen. Da er einen Asyl-Folgeantrag gestellt hatte, brauchte er eine ladungsfähige Adresse. Dies wurde durch die Solidarität von Bernd Riexinger sichergestellt. Leider ist auch der Folgeantrag und der Antrag auf Abschiebeschutz inzwischen abgelehnt worden, sodass es momentan keine Alternative zum Leben in der Illegalität gibt. Da er auf keinen Fall in die Türkei zurückkehren kann, überlegen wir gerade zusammen mit Mustafa über eine Alternative in einem anderen Land. Die Auswahl ist aber nicht groß. Manche Familien leben deshalb bereits über Jahre im Untergrund.
K.H.: Wo können wir einen Ausweg aus dem Dilemma finden?
C.G.: Unser Ziel muss es sein, eine starke Selbstorganisation der Illegalen, die für sich selbst und ohne Stellvertreter kämpfen, zu schaffen, ähnlich die die "Sans Papiers" in Frankreich. Eine solche Organisation könnte viel massiver Druck ausüben, beispielsweise über die Besetzung von Kirchen. Leider ist diese Perpektive noch nicht weit genug entwickelt bei uns, aber das wäre ein Ziel.

Die Initiative "Kein Mensch ist illegal" ist auf Spenden angewiesen. Sie bittet um Überweisungen auf folgendes Konto: Zentralkulur, Stichwort "Kein Mensch ist illegal", Kto-Nr. 2693570, BLZ 60050101 (LG). Die Spenden sind steuerlich absetzbar.

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