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Nummer 3 / Juli 2000

Globalisierung und die Vision einer sozialen Gesellschaft:

Der "Terror der Ökonomie" zerstört die Demokratie

von Frank Deppe *

Das Modell der entfesselten Kräfte der internationalen Finanzmärkte, der Megafusionen, das Modell des quasi theologischen Glaubens an die Selbstheilungskräfte freier Märkte ist zutiefst inhuman und demokratiefeindlich.

(...) Wir müssen uns mit der Internationalisierung auseinandersetzen. Nationale Blindheit ist ein Zeichen der Schwäche und stets offen für reaktionäre, nationalistische Positionen. Aber wir müssen uns um so energischer mit jener Globalisierungsideologie auseinandersetzen, mit der - als Peitsche - in den Betrieben Betriebsräte und Belegschaften erpreßt werden. Die durch das Kapital und die Finanzmärkte angetriebene "Globalisierung" führt erstens zu einer globalen wie nationalen Zuspitzung sozialer und kultureller Ungleichheit. Und zweitens führt dies - wie wir in den letzten Jahren in Ostasien, Südamerika und Rußland verfolgen konnten - zu schweren sozialen und Finanzkrisen. (Wobei allerdings in der Presse hierzulande von den sozialen Folgen solcher Krisen für die Masse der Bevölkerung kaum die Rede ist; das interessiert Aktienbesitzer ziemlich wenig.)

Politik als Verwalterin von Sachzwängen
Drittens und das scheint mir besonders wichtig, führt die so verstandene Globalisierung zu einer tiefen Krise der Demokratie, die wir mehr oder weniger deutlich auch bei uns, und zwar nicht nur über den Sumpf des Kohlschen Systems der schwarzen Kassen oder in der zunehmenden Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber der Politik wahrnehmen. Wenn die Politik nur die Sachzwänge der internationalen Märkte nachvollziehen kann (Anpassung organisieren muß!), dann hat die Demokratie ihren Sinn und Zweck verloren; dann aber - das haben in den letzten Jahren mehr Menschen begriffen - regiert der "Horror der Ökonomie" (Viviane Forrestier) oder der "Imperialismus der Ökonomen", die der Politik vorschreiben wollen, was sie zu tun hat, um mit den Gesetzen des Marktes konform zu gehen.
Es wäre dringend an der Zeit, daß auch die Gewerkschaften wieder ein Bewußtsein davon gewinnen, wie eng wirtschaftliche und politische Macht miteinander zusammenhängen, schon gar in der neuen Form der transnationalen Kapitalmacht und der Megafusionen, die keine Grenzen mehr kennen. Die Demokratie, der Sozialstaat, ja die Organisation der Gewerkschaften waren stets auch Institutionen, die "Waffen", die die Schwachen entwickelt haben, um der Willkür der Reichen und Mächtigen zumindest Schranken zu setzen, sie zur Anerkennung gewisser demokratischer und sozialer Mindeststandards usw. zu zwingen. Diese Erkenntnis müssen wir uns heute leider vielfach neu aneignen - und zwar in Bezug auf neue Formen grenzüberschreitender Politik ...

Neoliberalismus vertieft soziale Spaltung
Ich nenne nur einige Daten, die am Beispiel der "Globalisierung" zeigen sollen, daß die soziale Spaltung zu einer monströsen Vermögenskonzentration bei den Reichen und Superreichen führt. Alleine in den vier Jahren zwischen 1994 und 1998 stieg das Eigenkapital der 200 reichsten Personen der Welt um mehr als das Doppelte, von 440 Milliarden Dollar auf über eine Billion. Das entspricht dem Gesamteinkommen von 41 Prozent der Weltbevölkerung. Nimmt man das Gesamtvermögen der drei reichsten Milliardäre der Welt, dann übersteigt dies das gesamte Bruttosozialprodukt der 49 am wenigsten entwickelten Länder mit einer Bevölkerung von 600 Millionen Menschen. Nehmen wir noch eine andere Zahl: 1960 lag das Einkommen des reichsten Fünftels der Weltbevölkerung um das dreißigfache über dem entsprechenden Wert für das ärmste Fünftel. 1995 hatte sich die Kluft auf ein Verhältnis von 82:1 vertieft. Ein wichtiges Ergebnis der neoliberalen Herrschaft und Politik seit den frühen 80er Jahren ist, daß sich diese Spaltungen auch in unseren hochentwickelten Gesellschaften - nicht nur in den USA - immer mehr durchsetzen und durch den Abbau des Sozialstaates, durch Steuerentlastungen für die Reichen, durch die Zunahme der sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnisse und durch die Massenarbeitslosigkeit seit inzwischen einem Vierteljahrhundert verstärkt werden.

Sozialdarwinismus der Eliten
Die Gewinner dieser Spaltung, die alten und neuen Eliten, reagieren ausgesprochen negativ und empfindlich auf solche Zahlen und die damit verbundene Forderung nach einer Sozialbewegung (und nach einer Gewerkschaftspolitik, die eine grundlegende Veränderung der Einkommens- und Reichtumsverteilung global und vor Ort vertritt. ... Die Gewinner wehren die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit meist als Ausdruck von "Sozialneid" ab. Immer häufiger ziehen sie sich sogar selbstgefällig auf die sozialdarwinistische Formel vom "Survival of the Fittest", also des Überlebens des Stärksten in der globalen Konkurrenz, zurück. Damit wird übrigens der antidemokratische Kern dieser Ideologie auf besonders drastische Weise bestätigt. Daher sollten die Gewinner auch einmal öffentlich daran erinnert werden, daß in der bisherigen Geschichte solche gewaltigen sozialen Spaltungen nicht nur beim Hessischen Landboten des Georg Büchner im frühen 19. Jahrhundert den Schlachtruf "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" hervorgerufen haben. Mir scheint, daß die großen Demonstrationen in Seattle und Washington, die sich gegen die sozialen Folgen der Liberalisierungspolitik der G-7-Staaten des IWF und der WTO richteten ... erste Reaktionen darstellen, die auch unsere Unterstützung verdienen.
Im Kern geht es um die Frage, ob die Verteilungsverhältnisse (die gewaltige Umverteilung von unten nach oben im Ergebnis der neoliberalen Herrschaftskonstellationen seit 20 Jahren) korrigiert und deshalb ins Zentrum gewerkschaftlicher Politik gestellt werden sollen. ...

Gesellschaftliche Alternativen oder Barbarei
Ich teile auch die Empörung vieler Kolleginnen und Kollegen, wenn sie im Handelsblatt lesen, daß für den DGB der neue "Aufbruch", den er mit einer Millionen-Image-Kampagne zum 1. Mai verkündet, "ein Ende des Gegensatzes von Kapital und Arbeit bedeutet" (Handelsblatt 28./29.4.00, S. 2). ... Solange die Herrschenden uns predigen: "Es gibt keine Alternativen mehr!" solange bleibt die Debatte über mögliche Alternativen, aber auch über unterschiedliche Entwicklungswege notwendig. Ohne Visionen, ohne das Bewußtsein von der Möglichkeit für die Durchsetzung von Alternativen breitet sich eine geistige und kulturelle Wüste aus, eine Kultur der Barbarei aus - die heute schon täglich über die privaten Medien als profitable Volksverdummung als Verwertung von geistigem Müll, der zum Zwecke der Quotensteigerung und zur Erhöhung der Aktienkurse inszeniert wird und Allgegenwärtig ist. Die Angst vor der Vereinsamung, der Verlust der Fähigkeit, stabile soziale Bezüge zu entwickeln, scheint die Bereitschaft zur Zerstörung von Intimität und Subjektivität - sowie der Fähigkeit zu solidarischem Denken und Handeln - gewaltig gesteigert zu haben. Vergessen wir darüber aber nicht die politischen Dimensionen dieser "Kulturrevolution" im Dienste des Medienkapitals (von Murdoch, Kirch und Bertelsmann); es dient der Festigung der weltweiten Herrschaft einer Elite über die Massen, die unterhalten sein wollen, für die das Paradies inzwischen die Gestalt eines riesigen Einkaufszentrums angenommen hat.
Vor einigen Tagen wurde - in einer ausländischen Zeitung über die Vision unseres Bundeskanzlers für die Zukunft Deutschlands berichtet. Ich zitiere aus El Pais, Madrid vom 24.4.2000: "Der Traum des Kanzlers Gerhard Schröder ist es, Deutschland in ein Land von Aktionären zu verwandeln, die so in das Kapital ihrer Unternehmen einbezogen sind, daß sie aufhören, sich selbst als Arbeiter zu sehen und sich - statt dessen als Quasi-Eigentümer zu fühlen ... Schröder forderte die Arbeiter (des Wolfsburger VW-Werkes) auf, sich in Aktionäre zu verwandeln und die Globalisierung zu nützen, anstatt sich gegen sie zu verteidigen. Der Kanzler versteht die Mitbestimmung der Arbeitnehmer als einen Beitrag zu einer neuen Unternehmenskultur durch die finanzielle Beteiligung am Produktivkapital.... Die Gewerkschaften (so wird Schröder zitiert) müssen ihre Strategien ändern; denn sie sind durch Mitbestimmung quasi zu Mitunternehmern geworden".
Die übrigens gar nicht so top-moderne, sondern uralte Vision eines "Volkskapitalismus" (die lange vor Ludwig Erhard schon bei der Gründung des Volkswagenwerkes Pate gestanden hatte) kennt keine autonomen Gewerkschaften und keine Gegenmacht, sondern nur noch Shareholder-Eigentümer, die an der Wettbewerbsfähigkeit ihres Unternehmens und Betriebes interessiert sind. Als Aktionäre müßten sie eigentlich - um die Paradoxie auf die Spitze zu treiben - für die Vernichtung ihrer eigenen Arbeitsplätze und für die Verdrängung der Gewerkschaften aus dem Betrieb votieren. Solange solche platten Visionen Konjunktur haben, solange wird es hoffentlich in den Gewerkschaften auch Widerspruch dagegen geben.

* Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Rede, die der Politikwissenschaftler und Gewerkschafter Frank Deppe am 1. Mai in Marburg hielt. Prof. Deppe hat uns seinen Redetext freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

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