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Nummer 3 / Juli 2000

"Big-Brother" im Vormarsch:

Der Angriff der Videoten

von Rolf Gössner

Blick zurück ins letzte Jahrtausend: Mit einem harmlos wirkenden Vorhaben erreichten staatliche Planer der alten BRD in den 80er Jahren wider Willen eine ungeahnte gesellschaftliche Breitenwirkung: Die detaillierten Fragen der Volkszähler nach Arbeitsstelle, Einkommen, Wohnung, Familienstand, Mobilität, Freizeit und Finanzgebaren wurden als Bedrohung empfunden.

Aus dem Gefühl eigener Betroffenheit schien sich anlässlich der Volkszählung eine wahre Datenschutzbewegung zu entwickeln. Initiativen zum Volkszählung-Boykott (VoBo) schossen aus dem Boden, massenweise versammelten sich die potentiell Betroffenen in großen Sälen und Stadthallen, um sich informieren zu lassen. Der aufkeimende Widerstandsgeist, der verbale Mut zum zivilen Ungehorsam war jedoch meist von der bangen Frage begleitet: "Was tun, wenn der Zähler zweimal klingelt", nämlich wenn Zwangsgelder, Erzwingungshaft oder Ordnungswidrigkeitsverfahren drohen. Und so kam die VoBo-Bewegung über den Horizont der eigenen Betroffenheit nicht hinaus, sondern bildete sich still und leise zu einer reinen Rechtshilfebewegung zurück, die das staatliche Projekt Volkszählung nicht mehr in politischen Zusammenhängen zu begreifen vermochte.
Diese außerparlamentarische Opposition dürfte dennoch schon im ersten Anlauf dazu beigetragen haben, daß das Bundesverfassungsgericht 1983 sein berühmtes Volkszählungsurteil gesprochen hat, mit dem es das Volkszählungsgesetz in Teilen für verfassungswidrig erklärte. Mit diesem Urteil erkannten die Verfassungsrichter die "informelle Selbstbestimmung" als Grundrecht an, so daß nun Datenerfassung und -speicherung als Eingriffe in dieses Grundrecht verstanden werden müssen. Das bahnbrechende Urteil wurde jedoch nicht zum Anlaß genommen, den in der Praxis wuchernden Wildwuchs im Datenbereich zu beschneiden, im Gegenteil: Der Wildwuchs wurde nur rechtlich eingebettet. Das Urteile bildete fortan die Grundlage für eine wahre Legalisierungswelle - besonders bei Polizei und Geheimdiensten.

Bilder aus dem Menschenzoo
Wir leben im Jahr 2000 - und da geht es folgendermaßen zu: Seit 1. März läuft im Kommerzsender RTL2 eine Serie mit dem unmittelbar auf Orwell verweisenden Titel "Big Brother", die schon in 16 Länder verkauft wurde. Zehn freiwillige Kandidaten, die einander nicht kannten, trafen sich in einem schmucklosen, spartanisch eingerichteten Wohncontainer vor den Toren Kölns, wo sie sogleich eine Art Wohngemeinschaft bilden sollten. Die aus über 20 000 Aspiranten ausgewählten Zehn haben 100 Tage lang keinerlei Verbindung zur Aussenwelt - keine Zeitung, keinen Fernseher, kein Radio, kein Telefon. Der Container ist durch Stacheldraht und Wachleute abgeriegelt. Die Bewohner werden in jedem Winkel der 153 Quadratmeter großen Wohnung - mit Ausnahme der Toilette - rund um die Uhr beobachtet und belauscht. Das Filmmaterial wird jeden Tag auf jeweils 45 Minuten zusammengeschnitten und so verdichtet zur besten Sendezeit für 1,2 bis 3,8 Millionen Zuschauer ausgestrahlt. Über Internet (www.bigbrother.debox.de und www.bigbrohter-house.de) erhält man jederzeit virtuellen Zutritt und Bilder aus dem Menschenzoo. Damit die Zuschauerquote stimmt, ist für genügend Zoff und Gruppendynamik gesorgt: Die Fenster sind von innen verspiegelt, warmes Wasser gibt es täglich nur eine Stunde lang; die Kandidaten-Auswahl soll ein Aufeinanderprallen recht konträrer Charaktere und Verhaltensweisen garantieren - etwa Kettenraucher und Nichtraucher, Chaoten und Ordnungsliebende. Der Sieger, der die Tortur der Totalüberwachung bis zum Schluß durchhält, wird von den Zuschauern gekürt und erhält 250 000 DM Schmerzensgeld. Es ist also - neben allem Narzismus und Exhibitionismus - ein schnöder Kampf ums große Geld nach der Devise "Survival of the fittest". Dieser Menschenversuch, dessen arrangierte Extremsituation (Isolation, Gruppendruck, Beobachtung) nicht kalkulierbare Reaktionen erwarten läßt, lebt vom Voyeurismus der Außenwelt. Die Zehn, die sich langfristiger Observation unterziehen, werden zu gläsernen Menschen.
In Zeiten solcher Enthemmungen, in denen im Internet rund um die Uhr über "web-cams" Oberservationen live aus den Wohnstuben kommerziell motivierter Exhibitionisten angeboten werden, in Zeiten, in denen "Big-Brother" als kommerzielles Spanner-Spektakel präsentiert wird - in solchen Zeiten ist eine Öffentlichkeit, die sich hieran nicht nur delektiert, sondern auch gewöhnt, nur schwer für das Problem einer fortschreitenden gesellschaftlichen Überwachung und für den Datenschutz zu sensibilisieren.

Big Brother in echt
Derweil nehmen die staatliche sowie die ökonomisch-soziale Überwachung und Kontrolle mit der Entwicklung der modernen Telekommunikation und von Überwachungstechniken ungeahnte Dimensionen an, die wir als Einzelne kaum noch erfassen können. Aber sie beeinflussen unser aller Leben mit weitreichenden Folgen. Dabei hat der traditionell neugierige Staat schon lange das Überwachungsmonopol verloren und konkurriert mit privaten Unternehmen und Kriminellen.
So betrachtet kann man "Big Brother" auch als Pilotprojekt zur Verharmlosung etwa der Video-Überwachung im privaten und öffentlichen Raum verstehen. Politiker, die nun gegen "Big-Brother" publikumswirksam zu Felde ziehen, kämpfen letztlich gegen Geister, die sie selbst gerufen haben: das private Kommerzfernsehen. Sie kämpfen gegen "Auswüchse", die die kapitalistische Marktwirtschaft unablässig produziert. Und sie kämpfen gegen eine Tendenz, die sie mit ihrer sogenannten Sicherheitspolitik selbst forcieren: den Trend zur modernen Kontroll- und Überwachungsgesellschaft.
Von der audio-visuellen Dauerbeobachtung, wie von RTL2 in der "Big-Brother"-Sendung inszeniert, ist es nur ein kurzer Schritt zur Video-Überwachung in öffentlichen und privaten Räumen des Alltages. Diese Technik soll künftig in bundesdeutschen Städten verstärkt als potentielles Verhütungsmittel eingesetzt werden - so fordert es allen voran die CDU/CSU, die darin eine wirksame Waffe zur Abwehr von Gefahren, zur Verhinderung von Straftaten oder Ordnungwidrigkeiten, aber auch zur Verbrechensbekämpfung an "Kriminalitätsschwerpunten" erblickt. Wer denkt da nicht an die CDU-Parteizentrale?
Nahezu eine halbe Million Kameras sind in der Bundesrepublik bereits eingesetzt, um unser Tun und Lassen zu beobachten, und täglich kommen neue hinzu. Allein auf dem Weltausstellungsgelände will man 260 Videokameras einsetzen, um die Besucher zu filmen. Die Bilder sollen in der Expo-Betriebs- und Sicherheitszentrale zur Auswertung zuammenlaufen. Auch die örtliche Straßenbahn-Gesellschaft "Üstra" will 250 und die Deutsche Bahn 100 leistungsstarke Kameras zur Überwachung gefährdeter Bereiche installieren. Mit diesem großangelegten Feldversuch soll der Weltöffentlichkeit vorgeführt werden, wie eine fünfmonatige Ausnahmesituation überwachungstechnisch in den Griff zu bekommen ist.

Schutz vor Bettlern und Wildpinklern
Am Frankfurter Flughafen sind heute schon 2000 Kameras installiert, die eine Hälfte dient der Betriebsüberwachung, die andere soll Sicherheit bewirken. Im Frankfurter Hauptbahnhof beobachten ständig mehr als 120 Kameras mit starken Zoom-Objektiven - versteckt in verspiegelten Halbkugeln - die Reisenden, die über alle Ebenen, Gänge und Bahnsteige visuell verfolgt werden können. Bettler, Drogenabhängige, Vandalen sollen erkannt und aus den sich längst zu Konsumtempeln gemauserten Bahnhöfen verscheucht werden. Die nimmermüden Augen der elektronisch schwenkbaren Kameras spüren solchen Außenseiter auf, der Bahnschutz erteilt Hausverbote und der Bundesgrenzschutz leistet gegebenenfalls die Strafverfolgung ein. Alle Pendler und anderen Reisenden werden miterfaßt: Wer wirft eine Bierdose weg? Wer raucht auf der Rolltreppe? Wer wirkt nervös und schaut sich immer wieder um? So kann schon verdächtig wirken, wer nur auf seine Oma wartet. Einzelne Personen und deren womöglich angespannte Gesichter können mittels Joystick herangezoomt werden. Selbst der Zeitungsartikel, den jemand mit besonderem Interesse liest, kann am Monitor mitgelesen werden.
Gegenwärtig wird in den USA, in Großbritannien und in Deutschland an einem System gearbeitet, das aus einer Menschenmenge einzelne Gesichter herausfiltert und in Sekunden mit Millionen gespeicherter Bilddaten abgleichen kann, um eine gesuchte Person zu ermitteln. Es wird an Kameras und Rechnerprogrammen gearbeitet, die auffälliges Verhalten automatisch registrieren und melden. Wer etwa vor einer Bank längere Zeit hin- und hertigert, macht sich als potentieller Bankräuber verdächtig.
Videografie zum Zweck der Überwachung breitet sich aus und durchdringt nach und nach schon alle Lebensbereiche: Im privat-kommerziellen Raum sind Kaufhäuser und Tankstellen mit Videokameras bestückt. Der Ladenbesitzer filmt seine Kassiererin, der Werkschutz überwacht die Umkleidekabinen der Arbeiter. Auch im öffentlichen Raum grassiert die Videotie: In Rathäusern, Gerichten, auf Straßen Plätzen, in Unterführungen, Fußgängerzonen, bei Demonstrationen oder Fußballspielen und an sogenannten Kriminalitätsschwerpunkten, wo sich regelmäßig Angehörige sozialer Rand- und Problemgruppen versammeln, wie Junkies, Ausländer, Obdachlose, Bettler, denen die gesteigerte Aufmerksamkeit der Beobachter gilt, weil sie mit solchen Methoden aus den schnieken Konsummeilen vertrieben werden sollen. In niedersächsischen Städten und in Sachsens Metropolen Leipzig und Dresden überwacht die Polizei bereits wesentliche Teile der Innenstädte. Die offen zelebrierte Video-Überwachung soll in erster Linie präventiv wirken - das heißt: potentielle Straftäter von ihrem Tun abhalten, Gefahren und Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung abwehren. Überwiegend werden kleine Regelverstöße erfaßt: Drogenkonsum und -handel in geringen Mengen, ("Rauschgiftkriminalität") Alkoholgenuß ("Trinkgelage") und Raufereien ("Gewalt"), aber auch Graffities, Vandalismus ("Sachbeschädigung"), wildes Urinieren und Falschparken (Ordnungswidrigkeiten), nicht dagegen die große oder gar organisierte Kriminalität, schon gar nicht in den Reihe der law-and-order Partei CDU, die so vehement für Spähangriffe eintritt.

Law and order kontra Grundgesetz
Statt in dunklen Ecken der CDU-Parteizentrale ist zum Beispiel in Celle eine Videokamera im Vorraum einer öffentliche Toilette installiert, die bevorzugt von Homosexuellen aufgesucht wird.
Verstärkte Überwachung im öffentlichen Raum hat in aller Regel nicht die verheißene Wirkung, Kriminalität zu verhindern. Allenfalls wird Kriminalität in weniger beobachtete Bereiche verdrängt, die dann früher oder später ebenfalls verstärkt observiert werden müssen - eine verhängnisvolle Kettenreaktion. Wegen des Verdrängungseffekts lehnt auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) - mit Blick auf Erfahrungen aus England - eine flächendeckende Videoüberwachung in den Innenstädten ab: Die erwartete Abschreckung Krimineller, prophezeite sie, werde nicht eintreten.
Mangel an Effektivität ist nur einer der Kritikpunkte. Fatal sind die Risiken für das Recht auf informelle Selbstbestimmung. Da eine im öffentlichen Raum installierte Kamera eine Vielzahl von Personen erfaßt, geraten zwangsläufig strafrechtlich irrelevante individuelle Verhaltensweisen ins Visier. Die Betroffenen, falls sie die Überwachung überhaupt bemerken, wissen nicht, wo die Bilder empfangen, wie sie ausgewertet und wo sie gespeichert werden. Sie werden zu gläsernen Menschen gemacht, aber was mit ihnen geschieht, ist für sie nicht mehr zu durchschauen. Sie sind einer Technik ausgeliefert, die immer weiter entwickelt wird und die den Beobachtern eine Fülle von Auswertungs-, Bearbeitungs- und Verwendungsmöglichkeiten zum Nachteil der beobachteten Personen und ihrer Bürgerrechte bieten. Nach Auffassung der Datenschutzbeauftragten erzeugt die Ungewißtheit über Art und Zweck der Beobachtung einen latenten Anpassungsruck. Schon das Bundesverfassungericht hatte in seinem Volkszählungsurteil von 1983 festgestellt: "... Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten." In einer Entschließung vom März 2000 warnen die Datenschutzbeauftragten vor einer Beeinträchtigung der grundgesetzlich garantierten individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und des gesellschaftlichen Klimas insgesamt. Denn nach wie vor habe der Grundsatz Gültigkeit, daß alle Menschen das Grundrecht haben, "sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, ohne daß ihr Verhalten durch Kameras aufgezeichnet wird."
Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen, das von Sicherheitspolitikern und -praktikern zur Rechtfertigung ihrer Überwachungsphantasien so gerne bemüht wird, ist politisch nicht nur leicht ausbeutbar, sondern auch leicht zu täuschen, denn Videoüberwachung gaukelt Sicherheit nur vor, ist aber ihrerseits ein gravierender Unsicherheitsfaktor, weil sie in Grundrechte eingreift.

Rolf Gössner ist Rechtsanwalt und Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky", der wir diesen Beitrag entnommen haben. Diese empfehlenswerte Zeitschrift kann auch für 100 DM /Jahr abonniert werden beim Verlag Ossietzky, Vordere Schöneworth 21, 30167 Hannover.

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