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antifNACHRICHTEN an200104
Nummer 2 / April 2001



Antifaschismus der Eliten: Aufklärung oder Denunziation?

Wo bleibt der Aufstand der Zuständigen?

von Anne Rieger

"Rechtsextremistische Übergriffe und Gewalttaten haben im vergangenen Jahr drastisch zugenommen. Sie erreichten ein bisher nie gekanntes Ausmaß."(1) Der Anstieg betrug 58 % gegenüber dem Vorjahr. Der plötzlich aufgekommene Antifaschismus der politischen Eliten hat das nicht verhindert.

Für das Jahr 2001 liegen bisher gar keine Statistiken vor, angeblich wegen eines neuen Meldeverfahrens. Die Regierung "habe schlicht keine Zahlen", erfuhr Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsfraktion, vom zuständigen Staatssekretär auf ihre Anfrage hin. Bis Mai solle das Problem gelöst sein.(2) Liest man die täglichen Meldungen in den Medien gibt es wenig Hoffnung, das der Trend gestoppt ist oder sich sich gar umgekehrt hat.

Aufstand der Anständigen zeigt Spuren
Als Bundeskanzler Schröder nach dem S-Bahn-Anschlag auf jüdische Mitbürger umgehend zur jüdischen Gemeinde nach Düsseldorf eilte und ihr sein tiefes Mitgefühl aussprach, uns alle zu Zivilcourage und zum "Aufstand der Anständigen" aufrief, ging ein gewisses Aufatmen durch unsere antifaschistischen Reihen. Viele unter uns versprachen sich Rückenwind, Stärkung, finanzielle und politische Unterstützung für unsere über fünfzigjährige antifaschistische Arbeit, statt der bisherigen staatlichen und polizeilichen Repression und Diffamierung durch den Verfassungsschutz.
Antifaschistische Kundgebungen, Rockkonzerte gegen Rechts, Aufrufe zur Zivilcourage nahmen zu, Bündnisse gegen rechte Gewalt unter Einschluss von Arbeitgeberverbänden, CDU und FDP wurden auf unterschiedlichsten Ebenen gegründet. Im Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November und die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar gab es Demonstrationen und Kundgebungen, von Landes- und Bundespolitikern mitorganisiert. 65 Mio DM stellt das Familienministerium für das Aktionsprogramm "Jugend für Toleranz und Demokratie" zur Verfügung, sieben Mio DM für das Programm "Kino gegen Rechtsextremismus". Pädagogen, Psychologen und Soziologen rufen nach Programmen und Konzepten, um jugendliche Gewalttäter von ihren Einstellungen abzubringen, Konferenzen und Kommissionen beraten, Berichte und Bücher werden geschrieben. Mit großem propagandistischem Aufwand wird das Verbot der NPD vorbereitet. Aber die rechtsextremistischen Straftaten steigen

Besseres Klima - bessere Chancen
Die Spuren der umfangreichen Aktionen gegen die Neofaschisten haben sich in den Wahlen niedergeschlagen. Verluste der Reps bei den Wahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen zeigen, dass mehr Menschen auf Distanz zu den Neofaschisten gehen. Die Ergebnisse reihen sich in einen EU-weiten Trend ein, wie die Wahlergebnisse in Frankreich und Österreich zeigen.
Nachdem jahrelang von jugendlichen Einzeltätern, politischen Wirrköpfen und "Kavaliersdelikten", hervorgerufen durch zuviel Alkohol und damit angeblich von nicht voll Verantwortlichen begangen, die Rede war, wird heute durchaus von den politischen Eliten des Landes eine rechtsextremistische Bewegung wahrgenommen. Das ist der Erfolg unserer jahrelangen täglichen antifaschistischen Kleinarbeit. Ein gesellschaftliches Klima, in dem eine große Mehrheit der Bevölkerung, einschließlich der Mehrheit der politischen und ökonomischen Eliten, "rechtsextremistische" Gewalttäter und Hass und Zwietracht säende "Rechtsextreme" ablehnen, läßt uns aufatmen. Es gibt uns tatsächlich Rückenwind und damit bessere und häufigere Möglichkeiten, unsere antifaschistische Analysen des Neofaschismus und unsere Vorstellungen, wie er grundlegend zu bekämpfen ist, darzustellen. Damit steigen auch die Chancen, unsere Meinung breiter unter unseren Bündnispartnern zu verankern.

Aufklärung statt Denunziation
Denn bei allen Aktivitäten unterbleibt in der Regel eine umfassende Ursachenanalyse des Neofaschismus. Allenfalls wird die politisch unliebsame DDR als des Teufels Großmutter dargestellt, wobei geflissentlich übersehen wird, dass es in Baden-Württemberg bereits Anfang der Neunziger Jahre rassistisch motivierte Totschläge gab. Einer der bekanntesten war der Überfall auf Sadri Berisha, der in seinem Bett in Kemnat bei Stuttgart durch sieben Neonazis erschlagen wurde.
Die politischen Mediendarsteller zeigen mit dem Finger vorrangig nur auf die Gewalttäter und Haßparolenschreier auf der Straße, nachrangig auch auf die in den Parlamenten. Dabei waschen sie ihre Hände in Unschuld und tragen Betroffenheit oder Kerzen, als Zeichen der Anklage und des Mitgefühls. Sie rufen nach der ganzen Härte des Gesetzes, nach Strafverschärfung und weiterem Demokratieabbau im Namen der Gewaltverhinderung.

Rechtsextremistische Straftaten steigen
Gleichzeitig steigt die Zahl der rechtsextremistischen Übergriffe. Hilflos werden alle Ansätze bleiben, wenn die Ursachen totgeschwiegen werden, die den rechten Rattenfängern Akzeptanz und Zulauf bringen. Unsere Demonstrationen werden keine undurchdringliche Mauer bilden können um die Neofaschisten. Wir werden sie letztendlich nicht isolieren können, werden ihre verbrecherischen Gewalttaten nicht verhindern können, wenn wir nicht die Lebens- und Zukunftsängste ihrer Zuhörer, Mitmacher, Nachahmer, Mitläufer und Wegseher mit in Betracht ziehen.
Offen liegen mitten in der Gesellschaft die Ursachen für die Angst vor der Zukunft. Nicht nur Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit, offene Angst vor Arbeitslosigkeit, die morgen beinahe jeden von uns treffen kann, die Furcht, im Alter kein angemessenes Auskommen mehr zu haben, und die latente Angst, bei Krankheit oder Versagen, den Arbeitsplatz und das Auskommen zu verlieren, kein Geld für eine angemessene Behandlung zu haben, geht um unter den Menschen. Offen treten auch die Ungerechtigkeiten zu tage. Während ein kleiner Teil der Bevölkerung in unermeßlichem Reichtum lebt, der ständig steigt, blicken die anderen hilf- und wehrlos einer Politik ihrer sozialen Enteignung und der Zerstörung der Umwelt zu. Die wenigen Steinreichen wie Daimler Chef Schrempp z.B., der jährlich 5 Mio DM für sein Arbeitsplatzabbau-Programm erhält, oder Mannesmann-Chef Esser mit einem persönlichen Sozialplan von 60 Mio DM im Hintergrund preisen die neoliberalen Kräfte des freien Marktes, die angeblich allen zu gute kommen. Aber die Vielen bokommen zu spüren und beginnen zu ahnen, dass es sich lediglich um die Freiheit des Stärkeren, der "Winner", handelt.

Gegenkräfte gegen neoliberale Gewinner organisieren
Statt sich auf die eigene Kraft zu besinnen, statt sich in Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und linken Projekten gemeinsam gegen die Akteure und Gewinner von Sozial- und Lohnabbau, von Umweltzerstörung zusammenzuschließen, statt ihren unermesslichen Reichtum ins Rampenlicht zu stellen und Druck zu entwicklen, um so die Umverteilung von unten nach oben zu stoppen, wird viel zu häufig der Standort-Ideologie nachgegeben, wird teilweise sogar ein Bündnis für Wettbewerbsfähigkeit mit den Siegern des neoliberalen Sozialabbaus geführt und gepredigt.
Wundert es, wenn Menschen Furcht haben, zu den Verlierern des Neoliberalismus zu gehören? Zu jenen vier fünfteln der Weltbevölkerung, deren Hungerleben uns nur dann über das Fernsehen in die Wohnzimmer gespielt wird, wenn zu ihrer normalen Not noch Naturkatastrophen kommen, denen die Regierungen fast nichts entgegensetzen; oder zu den Verlierern im eigenen Land, den Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Wohnsitzlosen und bald vielleicht auch schon den verarmten Rentnern?
Verlierer auszugrenzen, scheint die eigene Gefahr zu verringern. Schuldige werden gesucht, scheinbar einfache Lösungen greifen, wenn es an politischer und ökonomischer Analyse mangelt und an starker gemeinsamer Gegenkraft. Der Fakt, dass eben nicht jeder seines Glückes Schmied ist, ist zu wenig in unseren Köpfen verankert. In einer Welt, in der Aktienkurse steigen, wenn Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren, in der internationale Fonds nationale Währungen zum Zusammenbruch bringen können, in der transnationale Konzerne die Beschäftigungspolitik einer Regierung verhindern, indem sie Steuerzahlung legal verweigern wie Daimler Benz, oder Finanzminister vom Sockel gestoßen werden, wenn sie nicht gefügig sind, wie Lafontaine, hat der Einzelne nur marginal Einfluss auf sein persönliches Schicksal. Und so greifen die Rattenfängerparolen der Neofaschisten, die scheinbar einfache Lösungen präsentieren: Wäre der türkische Nachbar nicht da, gäbe es einen Arbeitsplatz mehr, würde der Asylbewerber nicht staatliches Geld bekommen, um sein kümmerliches Leben zu fristen, wäre mehr da für meine Rente.
Es sind nicht allein Zukunftsängste und Perspektivlosigkeit verbunden mit Individualisierung und scheinbare Ohnmacht, weil Gegenkräfte nicht erkannt werden, die anfällig machen für die Rattenfängerparolen der Neofaschisten und zu terroristischer Gewalt auf der Straße führen.

Aufstand der Zuständigen
Die Zuständigen, bei denen Macht und Einfluss sich bündelt, geben schlechte Vorbilder:
  • Mit Bombengewalt wird die Wirtschaft eines Volkes zerstört, weil deren gewählte Vertreter unbotmäßige Politik machen, wie z.B. in Jugoslawien. Nationen erster und zweiter Klasse werden propagiert: die "Guten", wie die USA und die EU und die Schurkenstaaten, wie z.B. der Irak, auf die man sogar in Friedenszeiten bomben kann, um sie zur Räson zu bringen. Kein Politiker, der da zustimmt, kann sich freisprechen von der Schuld, den jugendlichen Gewalttätern zu einem staatlichen Vorbild verholfen zu haben, wie man mit Staaten oder Menschen zweiter Klasse umgeht.
  • Asylbewerber werden vom Staat mit weniger Geld ausgestattet, als sozialhilfebedürftige Deutsche. Kein Politiker, der da zustimmt, kann sich von der Schuld freisprechen, ein Vorbild gegeben zu haben, dass man Menschen unterschiedlich behandeln darf allein aufgrund ihres unterschiedlichen Passes.
  • Ein Staat, der Menschen, die aus wirtschaftlicher oder politischer Not, aus Angst um ihr Leben oder vor Folter in Gefängnisse sperrt (Abschiebeknäste) und sie zwingt - teilweise sogar unter Gewaltanwendung oder mit Spritzen "ruhiggestellt" - wieder in das Land ihrer Not zurückzukehren, gibt kein Vorbild ab für Humanismus.
  • Ein Staat, der nach dem Bruch mit dem Faschismus ehemalige NSDAP-Mitglieder in 80% der Richter-Ämter ließ, der zuließ, das nach 100 000 Vorermittlungen nur 7000 faschistische Täter verurteilt wurden, setzt Maßstäbe, wie mit faschistischen Verbrechern umgegangen wird.
  • Ein Staat, der seine Polizei anweist, Jugendliche, die sich den Neofaschisten mutig auf der Straße entgegenstellen, einzukesseln, handlungsunfähig zu machen, abzustrafen und einzuschüchtern, die Straße und Versammlungsräume aber für Neofaschisten frei hält - notfalls durch Gerichtsbeschluss und polizeiliche Gewalt - ermutigt nicht zur Zivilcourage der Anständigen.
  • Ein Staat, der Antifaschisten durch den Verfassungsschutz beobachten lässt, der linken Humanismus als ebenso "verfassungsfeindlich" bewertet wie rechtsextreme Hasspredigen, verwischt die Trennlinie zwischen Menschlichkeit und Pogrom, zwischen Toleranz und Intoleranz.
  • Deutsche Unternehmer, die sind sich nicht zu schäbig sind, 56 Jahre nach extremster Ausbeutung von 8 Mio Zwangsarbeitern, diesen immer noch das Almosen zu verweigern. Sie geben ein Beispiel für die Verrohung der Sitten. Nicht der Mensch, der bis zum Exzess ausgebeutete Mensch, steht im Mittelpunkt ihrer Überlegungen, sondern eiskalte kapitalistische Geschäftsinteressen. Entsolidarisierung, Egoismus und Ellenbogengesellschaft werden da zu Vorbildern - ob gewollt oder nicht.
Zivilcourage in Bündnissen
Gemeinsames demonstrieren gegen Neofaschisten auch mit denen, die täglich reicher werden durch Arbeits- und Aussichtslosigkeit, mit denen, die diese Umverteilung durch Sozial- und Steuergesetze noch fördern ist richtig - reicht für uns Antifaschisten nicht aus.
Mobilisierender Druck ist notwendig in Richtung derjenigen, die die Macht- und Einflußmittel bei sich konzentrieren. Sie müssen zu materieller und finanzieller Umverteilung zu unseren Gunsten oder zum "fairen teilen" gebracht werden. Die Zuständigen müssen von uns gezwungen werden, aufzustehen gegen die Rutschbahn des Sozial- und Lohnabbaus, der Umweltzerstörung und der Verwilderung der politischen Sitten und der politischen Sprache. Die Zuständigen müssen von uns gezwungen werden, die Umverteilung zu unseren Ungunsten zu stoppen und die von uns erarbeiteten Werte an die zu verteilen, die es dringend nötig haben, hier im Land aber auch international.

Die Zuständigen zum Aufstehen drängen.
In gemeimsamen Bündnissen dürfen wir uns von ihren Losungen nicht blenden und ablenken lassen von den Verursachern der sozialen und gesellschaftlichen Misere. Und solange in der Mitte der Gesellschaft Phrasen von Leitkultur, Überfremdung, vollem Boot und stolzen Deutschen (bei dieser spezifischen Geschichte (!)) sowohl am Biertisch als auch bei Sektempfängen en vogue sind, solange diese Phrasen über die Medien verbreitet werden, solange die Zuständigen dagegen nicht aufstehen, solange ist unzureichend mit dem Finger auf die zeigen, die tätliche Gewalt und Terror gegen Ausgegrenzte verüben. Wir müssen mit unseren Aktionen und Forderungen zu den Ursachen in der Mitte der Gesellschaft vordringen. Wir dürfen nicht stehen bleiben oder uns gar abdrängen lassen, nur die Auswüchse an den Rändern zu bekämpfen. Sie sind die Spitze des Eisbergs - und gehören bekämpft. Aber der größere Teil liegt unter Wasser - außerhalb des Blickfelds der völlig zu recht empörten Gesellschaft.
Das kleinste gemeinsame Ziel, hinter dem die breitesten gesellschaftlichen Kräfte stehen, ist es, die terroristischen Überfälle der gewalttätigen Neofaschisten in Springerstiefeln zu beenden. Kein leichtes Ziel - aber viele stehen dahinter - aus unterschiedlichsten Gründen. Ein weitergehendes Ziel ist es, das rassistische und menschenverachtende Parolengeschrei auf der Straße, in den Parlamenten und in den Medien der Neonazis ebenfalls zu beenden. Auch hier können wir noch mit breiter Zustimmung rechnen.
Erreichen werden wir das aber nur, wenn wir im Rahmen unserer breiten Bündnisarbeit unser weitergehendes Ziel, die Ursachen des Neofaschismus zu bekämpfen, in alle Aktionen miteinbringen. Unsere antifaschistische Aufgabe besteht darin, den antirassistischen Demos, Aktionen und Projekten die Stoßrichtung zu geben gegen die Akteure und Gewinner des Neoliberalismus. Je präziser das Ziel definiert ist, umso erfolgreicher die Bewegung. Die Geschichte lehrt, wer am meisten am Faschismus an der Macht verdient hat: Banken und Großkonzerne.

1 Stuttgarter Zeitung 3.3.2001
2 Junge Welt, 23.3.2001

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