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Nummer 2 / April 2001



Bei der Zwangsarbeiterentschädigung ist es Fünf nach Zwölf

Auszahlen! Jetzt!

von Alfred Hausser und Christoph Jetter

Die "biologische Erledigung" der Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen - das Dahinsterben der Überlebenden - beschleunigt sich mit jedem Tag weiterer Zahlungsverzögerung. Monatlich sterben Tausende von ihnen, aber die Politik läßt der Empörung über das zynische Katz-und-Maus-Spiel der Wirtschaft mit der Würde der NS-Opfer noch immer keine Taten mit dem erklärten Ziel "Auszahlungsbeginn jetzt und sofort!" folgen.

Wie lange noch, ist zu fragen, will sich der demokratisch gewählte Bundestag eigentlich von der angemaßten außerparlamentarischen Macht der Wirtschaft vorführen und weiterhin die Bedingungen diktieren lassen, unter denen ein vor sieben Monaten, am 11. August 2000, in Kraft gesetztes Gesetz vollzogen werden darf?
Diese Frage richtet sich an alle Bundestagsabgeordneten, besonders aber an jene, die nach den von den Schlußstrichstrategen der Wirtschaft in vollem Bewußstein der Folgen herbeigeführten US-Gerichtsentscheidungen die anhaltende Zahlungsverweigerung der Industrie mit scharfen Worten verurteilt haben, also den jetzt erreichten dramatischen Entwikklungsstand kritisieren. (Die beiden Entscheidungen der New-Yorker Bundesrichterin, die bei ihrem Gericht gegen deutsche Banken eingereichte Sammelklage nicht abzuweisen, richten sich im Prinzip überhaupt nicht gegen die Opfer und deren Entschädigungsverlangen, wie dies vielfach behauptet wird, vielmehr stellte die Richterin fest, daß die Ansprüche der Opfer mangels Einzahlung der beklagten Banken in den Stiftungsfonds nicht gesichert seien). Die ParlamentariererInnen müssen sich gerade im Hinblick auf ihre - weiß der Himmel: berechtigte! - Kritik den Hinweis gefallen lassen, daß offene Briefe an die Herren des Geldes, zu dem auch das Erbe aus Zwangsarbeit gezogener Profite gehört, daß empörte Interviews und noch so scharfe Stellungnahmen allein nicht weiterhelfen - vor allem: den Opfern nicht weiterhelfen.

Schluß mit der Schlußstrichformel
Die Politik, der deutsche Bundestag muß sich endlich aus der Falle befreien, in die er sich mit der Unterwerfung unter die Schlußstrich-Formel "Rechtssicherheit der Wirtschaft vor allen Opferklagen" begeben hat. Diese Befreiung kann nur gelingen, wenn wenigstens die Koalitionsfraktionen, die schließlich im Oktober 1998 einen Koalitionsvertrag mit der Entschädigungszusage an die "vergessenen NS-Opfer" vereinbart haben, das Gesetz des Handelns wieder an sich ziehen und den Auszahlungsbeginn wenigstens der bereitstehenden Stiftungsmittel an die Opfer ermöglichen. Die Folgen der auf noch schärfere Vorbedingungen für die Einzahlung angelegten Politik der Wirtschaft bedeuten ja nicht nur anhaltende Demütigung und Verhöhnung der in erster Linie betroffenen NS-Opfer selbst, führen nicht nur zu irreparabler Beschädigung dessen, was in der Präambel zum Stiftungsgesetz "moralische Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialismus" genannt wird, die Strategen der Wirtschaftsstiftung, angeführt vom gnadenlosen Zwiegestirn Gentz (Daimler-Chrysler) und Breuer (Deutsche Bank), demonstrieren längst und in aller Offenheit geradezu fundamentalistische Parlamentsmißachtung.
Ob ausgerechnet der Bundeskanzler, dessen unsägliches Wort vom notwendigen Schutz der deutschen Industrie vor Imageschäden und vor Exportverlusten wegen der Klagen von Holocaust- und Zwangsarbeitsopfern (Oktober 1998) unvergessen bleibt, bei der amerikanischen Regierung den Interessen der Opfer überhaupt zum Durchbruch verhelfen will, darf wohl bezweifelt werden, hat er doch den Wirtschaftssprechern Gentz und Breuer vor seinem USA-Besuch im März offenbar zugesagt, der "gesamte Komplex" der Entschädigungsklagen, also auch der neuerdings eingereichten Klagen zum Beispiel gegen IBM, müsse erledigt sein, bevor Entschädigung ausgezahlt werden könne. Diese Position geht weit über die Abmachungen des deutsch-amerikanischen Regierungsabkommens vom Juli 2000 hinaus, das die damals anhängigen Prozesse vor US-Gerichten zur Grundlage machte. "Letzlich brachte Gentz auch Gerhard Schröder auf Wirtschaftslinie", schrieb deshalb die "Financial Times Deutschland" (21.3.2001) und fügte hinzu: "Nach all den peinlichen Verrenkungen von Wirtschaft und Politik in den vergangenen Jahren wird einmal mehr deutlich: Es geht bei der Entschädigung von Zwansgarbeitern kaum um Moral. Vielmehr um ungestörte Geschäfte deutscher Unternehmen, um boykottfreie Absatzmärkte in Nordamerika."

Verantwortung vor Wirtschaftsinteressen!
Vor diesem Hintergrund hat sich die die Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime parallel und gemeinsam mit den anderen Opferverbänden und Initiativen, die in der Entschädigungskampagne aktiv sind, an alle Bundestagsfraktionen mit der Forderung gewandt, nach der gemeinsamen (!) Verabschiedung des Entschädigungsgesetzes im vergangenen Jahr nun auch gemeinsam diesem unerträglichen "Spiel" mit den letzten Hoffnungen der Opfer und mit der Glaubwürdigkeit des Parlaments ein Ende zu bereiten. Das Bekenntnis des Bundestages "zur politischen und moralischen Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialismus" in der Gesetzespräambel verlangt jetzt - ob mit oder ohne eine in kürzester Frist mögliche Gesetzesänderung - unverzügliche parlamentarische Schritte, damit die nach dem Stiftungsgesetz allein vom Bundestag zu treffende Feststellung "ausreichender Rechtssicherheit für die Unternehmen" erfolgt und mit der Auszahlung an die erbarmungslos hingehaltenen Opfer begonnen werden kann. Deren Lebenszeit läuft unerbittlich ab, Wartezeit gibt es in Wirklichkeit keine mehr, weil die Uhr längst auf "Fünf nach Zwölf" steht.

"Fortsetzung der Demütigung"

Alfred Hausser hat in persönlichen Schreiben an Bundeskanzler Schröder und Bundestagspräsident Thierse appelliert. Der Brief an den Bundestagspräsidenten hat folgenden Wortlaut:


Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Thierse,
vielleicht erinnern Sie sich an unser gemeinsames Auftreten am Rande des Evangelischen Kirchentages im Juni 1999 in Stuttgart: Wir beide waren eingeladen, zur Übergabe einer Gedenktafel am Ort eines früheren Lagers für Zwangsarbeiter in Stuttgart-Ost zu sprechen. Sie erinnerten u.a. ernst und glaubwürdig an die Notwendigkeit, die Schuld der Vergangenheit gegenüber den Opfern abzutragen. Ich sprach als Zeitzeuge und ehemaliger Zwangsarbeiter und mahnte, endlich die nach Jahrzehnten der Verweigerung begonnene Anstrengung, eine Entschädigung für die heute noch lebenden Opfer der Sklavenarbeit unter dem NS-Regime ans Ziel zu bringen, bevor die "biologische Lösung" dieses unehrenvolle Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte ohne ein Zeichen der Genugtuung für die Opfer unvollendet abbrechen wird. Als bald Neunundachzigjähriger, der seit vielen Jahren um materielle und ideelle Gerechtigkeit für die Opfer der Zwangsarbeit kämpft, weiß ich, wovon mit dem schrecklichen Wort "biologische Lösung" die Rede ist.
Wie Sie sich unschwer denken können, stehe ich unter dem Eindruck der jüngsten Entwicklung in diesem für uns Überlebende des Zwangsarbeitssystems demütigenden Drama, in dem nicht wir, die Opfer, agieren und unser Recht verlangen können, in dem vielmehr die Rechts- und Vermögensnachfolger der Täter von einst erbarmungslos die Bedingungen offensichtlich diktieren können. Zur Hauptbedingung für ihre Zahlungsbereitschaft, die sie gönnerhaft als "humanitäre Geste" angekündigt haben, haben sie "Rechtssicherheit" vor weiteren Klagen aus Opferkreisen gemacht - Sicherheit für die Unternehmen vor uns, den Opfern, für die es dergleichen nicht gibt. Das Stiftungsgesetz vom vergangenen August trägt in seinem §17 dieser Bedingung weitgehend Rechnung - und der Bundeskanzler sowie die Sprecher der Koalition wie der Bundestagsfraktionen (außer der PDS) bekräftigen auch nach der neuerlichen Ablehnung einer Klagezurückweisung durch die New-Yorker Richterin, daß die Bedingung der Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmen erfüllt sein müsse, bevor mit den Entschädigungszahlungen begonnen werden könne - die dann u.U. erst im nächsten Jahr beginnen könnten (so Herr Beck von der Fraktion B 90/Die Grünen, gewiß einer der glaubwürdigsten Verfechter der Entschädigungsforderungen für NS-Opfer).
Sie werden verstehen, wenn ich - wie viele - diese Blockade, die das Resultat einer wohl durchdachten, von der deutschen Wirtschaft durchgesetzten Gesetzeskonstruktion darstellt, als Fortsetzung der Demütigung aller überlebenden Opfer der Zwangsarbeit empfinde, von denen viele krank und unvorstellbar bedürftig nur noch eine kurze Lebensspanne vor sich haben. Sie haben keine Wartezeit mehr, weil ihre Lebenszeit abläuft.
Ohne mich in die Rolle des Bittstellers zu begeben, übermittle ich Ihnen meine Bitte: wirken Sie mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Kräften auf die Verantwortlichen der Bundestagsfraktionen ein, damit diese schändliche Entwicklung beendet wird. Es ist - wie Sie wissen, nicht nur aus meiner Sicht - unabweisbar geworden, daß der Bundestag unverzüglich entweder "ausreichende Rechtssicherheit" für die deutschen Unternehmen (zumindest unter dem Aspekt "Zwangsarbeit") im Sinne des Gesetzes feststellt oder ein Vorschalt-Gesetz beschließt, das den sofortigen Auszahlungsbeginn durch die Bundesstiftung ermöglicht. Was als humanitäre Geste der Versöhnung im vergangenen Juli vom Deutschen Bundestag als Gesetz nahezu einstimmig verabschiedet und vom Bundespräsidenten vor mehr als sieben Monaten in Kraft gesetzt wurde, droht sonst zu einer für die Opfer grausamen Farce zu verkommen, verbunden nicht zuletzt mit einer moralischen Beschädigung für das Ansehen des Bundestages. Ich hoffe auf mehr als nur Verständnis, ich hoffe auf wirksame politische Hilfe. Mit freundlichen Empfehlungen

gez. Alfed Hausser

Solidarität mit den Überlebenden der Zwangsarbeit

Folgendes Schreiben wurde von zahlreichen Opferverbänden und -initiativen, u.a. auch von der Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime am 19. 3. an die Bundestagsfraktionen adressiert:

An die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen von SPD, CDU-CSU, Bündnis 90 / Die Grünen, FDP und PDS

Sehr geehrte Damen und Herren,
vor dem Hintergrund der - in erster Linie für die Opfer - dramatischen Entwicklung in der Entschädigungsfrage, richten wir folgenden Appell an Sie:
  • Für die Opfer der Zwangsarbeit gibt es keine Wartezeit mehr, weil ihre Lebenszeit abläuft. Viele von ihnen sind zudem, oft verfolgungsbedingt, krank und in einem Ausmaß bedürftig, das sich hierzulande kaum jemand vorstellen kann. Wir halten es - gleich, welche Entwicklung sich in den nächsten Wochen und Monaten ergibt - für unabweisbar, daß der Deutsche Bundestag eine Vorab- oder Vorschalt-Regelung beschließt. Sie muss zumindest für die Hochbetagten und die auf medizinische Versorgung angewiesenen ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eine erste Zahlung ermöglichen.
    Unabhängig von der Frage, wer und welche Schwierigkeiten für die weitere Verzögerung des Zahlungsbeginns der Entschädigung verantwortlich zu machen sind, halten wir einen solchen Schritt aus Gründen der schlichten Menschlichkeit, aber auch zur Beendigung der anhaltenden moralischen Katastrophe, die mit der Zahlungsblockade verbunden ist, für dringend geboten. Sollte dem der Gesetzeswortlaut entgegenstehen, ist ein aus dem Parlament initiiertes Vorschalt- oder Änderungsgesetz binnen kurzer Zeit möglich.
  • Die Wirtschaft stellt immer neue Forderungen zur Rechtssicherheit (die sich freilich nahezu ausschließlich nicht auf Zwangsarbeiter-Klagen, sondern auf Vermögensschäden beziehen). Was als humanitäre Geste vom Bundestag verabschiedet wurde, droht in juristischen Winkelzügen und einem unwürdigen Gezerre zu verkommen. In der Öffentlichkeit entsteht zudem der Eindruck, dass die Wirtschaft dem frei gewählten Parlament ihren Willen aufzwingen kann. Wir fordern Sie als demokratisch gewählte Interessenvertreter auf, bezüglich der Zwangsarbeit die Rechtssicherheit festzustellen und damit die Zahlungsblockade aufzuheben.
    Beenden Sie die von Wirtschaftsinteressen diktierte Verhöhnung des Parlaments und die weitere Demütigung der Opfer!
    Mit der Bitte um Ihre Stellungnahmen und mit freundlichen Empfehlungen

    (Unterschrift)

  • Die Wirtschaft ist das Problem!

    Sechs junge Mitglieder des Deutschen Bundestags haben sich an den Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, den Finanzchef von DaimlerChrysler, Manfred Gentz gewandt. Wir dokumentiere Auszüge:


    Sehr geehrter Herr Dr. Gentz,
    zunächst einmal Glückwunsch! Sie haben es geschafft, eine zügige Auszahlung der längst überfälligen Entschädigungszahlungen an die hochbetagten Opfer der Zwangsarbeit in deutschen Firmen zu torpedieren. Damit es soweit kommen konnte, hat ihr Sprecher Herr Gibkowski wirklich ganze Arbeit geleistet.
    Zuerst hat er, anstatt nach der Entscheidung von Faru Kram vom 24. Januar ein positives Zeichen zu setzen, die Richterin öffentlich angegriffen und ihr die Schuld für die Verzögerung angelastet. ...
    Doch damit nicht genug: Die Bemühungen von Herrn Gibowski ... die Glaubwürdigkeit in die Ernsthaftigkeit der Auszahlungsabsichten der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nachhaltig zu erschüttern, erwiesen sich als steigerungsfähig.
    Der Deutsche Bundestag könne ja in Sachen Rechtssicherheit beschließen was er wolle. Die Wirtschaft behalte sich vor, dann zu zahlen, wenn es ihr passe, tönte Ihr Sprecher. ...
    Diese offen zur Schau gestellte Mißachtung des deutschen Parlaments mitten in der Phase einer Entscheidungsfindung von Richerin Kram, läßt nur den Rückschluß zu, daß Sie ... die Richterin provozieren wollten ... .
    Dann ließen Sie uns durch ihre Anwälte eine immer länger werdende Liste von Fällen vorlegen, die alle erst noch abgewartet werden müßten. Auch hier war die Botschaft deutlich: Wir, die deutsche Wirtschaft, zahlen noch lange nicht! Diese konsequente Provokationskampagne Ihres Sprechers Gibowski hat den gewünschten Erfolg gebracht: Die Sammelklagen wurden vorerst nicht abgewiesen. ... Nach all dem, was wir von Ihnen und ihrem Sprecher in den letzten Wochen gehört haben, können wir nicht mehr glauben, dass Sie ernsthaft an einer schnellen Auszahlung der Entschädigungsmittel an die noch lebenden Opfer interessiert sind.
    Sie haben nicht nur eine Finanzierungslücke, sondern auch eine Glaubwürdigkeitslücke!
    Nicht der Bundestag, nicht die US-regierung und auch nicht die Richterin Kram sind das Problem. Die deutsche Wirtschaft ist das Problem. ...

    Christoph Moosbauer, Andrea Nahles, Dietmar Nietan, Michael Roth, Simone Violka (MdBs-SPD) Christian Simmert, (MdB B90/Die Grünen)
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