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antifNACHRICHTEN an200107
Nummer 3 / Juli 2001



Zur Bundestagsentscheidung vom 30. Mai 2001:

Ein Tag der Freude für die Opfer?

von Christoph Jetter
Alfred Hausser


"Ein Tag der Freude? Soll ich auf den Gräbern jener tanzen, die an den Leiden der Zwangsarbeit oder während der Jahrzehnte des vergeblichen Wartens gestorben sind?" fragte ein polnischer Überlebender zurück, als er nach seinen Gefühlen gefragt wurde. Der Tag, an dem der Deutsche Bundestag endlich die von der deutschen Wirtschaft als Zahlungsbedingung durchgesetzte "ausreichende Rechtssicherheit" feststellte und damit den Weg für die Auszahlung der Stiftungsmittel freimachte, war ein Tag wie jeder andere. Ein Tag an dem ungefähr zweihundert der noch lebenden Opfer des NS-Sklavenarbeitssystems gestorben sind. An jedem weiteren Tag danach werden ebensoviel sterben

Ein gewiß entscheidender Tag im Verlauf dieses quälenden Hin und Her zwischen Politik, Wirtschaft, Moral und Gerechtigkeit! Für allzu viele Opfer war es aber schon deshalb kein besonderer Tag, weil sie ihn gar nicht mehr erlebt haben. Und für viele der seinerzeit Verschleppten, zur Arbeit Gepreßten und Gedemütigten, die physisch und auch psychisch bis zu diesem 30. Mai durchhalten konnten, wird neben spürbarer Genugtuung des "Endlich, endlich!", neben dem Gefühl der Erschöpfung nach jahrelangem Anrennen gegen die Blockademauern der Verweigerung auch Bitterkeit und Enttäuschung bleiben.

Bitterkeit und Enttäuschung bleiben
Bitterkeit - weil jahrzehntelange kalte Abweisung an der Tür der reich gewordenen Profiteure der Zwangsarbeit tiefe Spuren hinterlassen hat; Enttäuschung - weil es mehr als sechzundfünzig Jahre nach der Befreiung vom Faschismus eben nicht gelungen ist, die wirklichen Schuldner - allen voran die deutsche Wirtschaft - wenigstens zur Zahlung ausnahmslos an alle noch lebenden Opfer zu verpflichten, also ohne Ausschluss von angeblich weniger hart Betroffenen. Ja, die Schuldner konnten nicht einmal wirklich zur Zahlung verpflichtet werden - die Täter und ihre Nachfolger spielen sich heute mit einer "humanitären Geste" als "Wohltäter" auf, obwohl sie bis zum letztmöglichen Zeitpunkt das Milliardengeschäft "Geld gegen Rechtssicherheit" betrieben haben. Sie haben es auf dem Rücken der Toten und der noch lebenden Opfer betrieben. Kein Pathos der parlamentarischen und außerparlamentarischen Würdigungen zum 30. Mai 2001 kann die Schändlichkeit der jahrzehntelang und bis zum letzten Tag praktizierten Mißachtung der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter überdecken.

Frist für Entschädigungsanträge wegen Zwangsarbeit: Achtung - 11. August 2001! Möglicherweise verlängert zwar der Deutsche Bundestag die Antragsfrist für Zwangsarbeiter-Entschädigung, die nach dem geltenden Gesetzesstand am 11. August 2001 endet. Da dies bei Redaktionsschluss dieser Antifa-Nachrichten (Anfang Juni) aber noch offen ist, erinnern wir alle ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vorsorglich an diese Frist.
Antragsberechigt sind alle ehemaligen Zwangsarbeiter, also auch alle, die in Gefängnissen, Zuchthäusern, Arbeitserziehungslagern, Konzentrationslager, Ghettos und unter vergleichbaren Bedingungen Zwangsarbeit leisten mußten. Anträge können und sollen vor dem genannten Termin gestellt werden, auch wenn die Unterlagen nicht vollständig sind.
Betroffene mit Hauptwohnsitz in Deutschland richten ihre Anträge an: (nichtjüdische Verfolgte): Internationale Organisation für Migration, Inselstraße 12, 10179 Berlin;
(jüdische oder aus rassistischen Gründen Verfolgte): Conference on Jewish Material, Claims against Germany, Inc., Sophienstraße 44, 60487 Frankfurt a.M. Antragsformulare und nähere Informationen sind bei den genannten Stellen erhältlich sowie bei der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", Markgrafenstr. 12 - 14, D-10969 Berlin

Hilfe bleibt weiter notwendig
Wir, die politisch lange Jahre beiseite geschobenen Opferorganisationen und Initiativen, hatten dieser zweiten Demütigung der Opfer nur unser beharrliches Bemühen um solidarische Hilfe und Information, um die Verhinderung des öffentlichen Gedächtnisverlustes und seit 1998 auch unseren Beitrag zur Kampagne "Gerechtigkeit für die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter" entgegenzusetzen. Wir werden auf dem nun in engen Grenzen Erreichten - in Gestalt der Berliner Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" und deren jetzt ausschlaggebenden Aufgabe der Durchführung des Gesetzesauftrages - nicht ausruhen können. Als VVN-BdA und als Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter werden wir anfragenden AntragstellerInnen und Organisationen weiterhin Beratung und Information bei der Suche nach Nachweisen für geleistete Zwangsarbeit, hier und da auch Hilfe zur Überwindung bürokratischer Hindernisse bieten müssen. Diese Anforderung wird ergänzend zu der primären Zuständigkeit der Partnerorganisationen bestehen bleiben. Wir werden nicht zuletzt Vorschläge für jene Projekte entwickeln müssen, die der innerhalb der Bundesstiftung gesondert eingerichtete Fonds "Erinnerung und Zukunft" im Interesse der Überlebenden des NS-Regimes fördern soll. Ob - wie auch wir fordern - die nach der aktuellen Geltung des Entschädigungsgesetzes am 11. August 2001 auslaufende Frist für die Antragstellung (diese Frist gilt nicht für die Beschaffung der Nachweise!) vom Bundestag nochmals verlängert wird, steht bei Redaktionsschluß dieser Ausgabe der "antifa-Nachrichten" leider noch nicht fest. Hierüber werden wir auf anderem Wege informieren.

Dank an alle, die geholfen haben
Unseren Dank an alle Mitstreiterinnen und Mitstreiter der zurückliegenden Jahre in unseren Organisationen und Initiativen, in Kirchen und Gewerkschaften, in Wissenschaft, Medien, Kommunen, Archiven und Parlamenten verbinden wir mit der herzlichen Bitte, bei der Bewältigung der erwähnten praktischen Aufgaben weiterhin mit aller Kraft behilflich zu sein.
31. Mai 2001



"Vielen Dank, Alfred"
Ob es ein großer Tag war, in ihrem Leben, dieser 30. Mai 2001, an dem der Deutsche Bundestag endlich, nach langem qualvollem Hin- und Her den Beschluß faßte, die ersten Zahlungen an die wenigen überlebenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu veranlassen? Ein Tag zum Aufatmen für die überlebenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die jetzt - hoffentlich schon sehr bald - endlich ein wenig finanzielle Hilfe erhalten werden, wohl schon. Ein Tag eines hart erarbeiteten Erfolges auch für den Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA Alfred Hausser und seine Lebensgefährtin Ilse Werner, die ihn bei seiner Arbeit als Sprecher der Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter engagiert und wirkungsvoll unterstützt.
Im Mai 1986 hat Alfred Hausser gemeinsam mit anderen ehemaligen Zwangsarbeitern die Interessengemeinschaft gegründet. Den Anstoß zur Gründung gab damals vor 15 Jahren eine Enschließung des Europäischen Parlamentes, in der die Europaabgeordeten feststellten, daß die ehemaligen Zwangarbeiter ein Anrecht auf Entschädigung haben. Alfred Hausser, der vor kurzem im Dritten Fernsehprogramm als "Mann der Woche" vorgestellt wurde, hat auf die Frage, was seine herausragendste Charaktereigenschaft sei geantwortet: "Mein Optimismus. Ich bin ein ein hoffnungsloser Optimist".
Optimismus und ungeheure Beharrlichkeit haben sicherlich dazu gehört, um 15 Jahre mit wahrhaft "brennender Geduld" trotz aller kräfte- und nervzehrenden Widerstände am Ziel festzuhalten, endlich doch eine Entschädigungszusage für die geschundenen ehemaligen Sklavenarbeiter zu bekommen.
Der Bundestagsabgeordneten Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen), der sich schon früh für die Entschädigungsforderung eingesetzt hat, hat Alfred Hausser in seiner Bundestagsrede am 30. Mai ausdrücklich gewürdigt: "Ich bin besonders froh, daß unser Freund Alfred Hausser, der in den 80er Jahren die Interessengemeinschaft der Zwangsarbeiter in Deutschland gegründet hat, diesen Tag noch erleben kann. Wir können feststellen, seine Arbeit für die Menschen, die mit ihm unter dem Zwangsarbeiterprogramm gelitten haben - ob sie aus dem Ausland kamen oder als Deutsche Zwangsarbeit leisteten -, hat sich gelohnt. Vielen Dank, Alfred!" Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle: Beifall bei B90/Die Grünen, bei der SPD und der PDS.
Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (PDS) richtete "ein persönliches Dankschreiben an die, denen am 30. 5. im Bundestag zu wenig gedankt wurde". Darin heißt es: "Es ist mir ein persönliches Bedürfnis, mich bei allen Freundinnen und Freunden, bei allen Mitkämpferinnen und Mitkämpfern zu bedanken, ohne deren langen und beharrlichen einsatz wir nie so weit gekommen wären. Ich nenne hier - stellvertretend für viele - Alfred Hausser und seine MitstreiterInnen von der Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime, Kurt Goldstein vom Auschwitz-Komitee, Ulrich Sander und andere in der VVN."
Dank erreichte Alfred Hausser auch von den Kolleginnen und Kollegen der IG Metall-Verwaltungsstelle Stuttgart, die Alfred einen großen Blumenstrauß überreicht haben.

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