01.06.1997
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschisten
Baden-Württemberg
Heft Nummer 2/1997 (Sonderausgabe)
Antifaschismus - Zukunftsentwurf für das 21. Jahrhundert
von Anne Rieger
Landessprecherin der VVN-BdA Baden-Württemberg
Unsere Vision ist eine Welt, in der Frieden, gelebte Demokratie für alle Bürger eines Staates, soziale Absicherung für alle Menschen und Erhalt der Natur Realität sind. Humanistische Einstellungen werden die vorherrschen Werte sein. In dieser Welt wird es keinen Raum geben für Egoismen wie Rassismus, Nationalismus, Standortlogik und überhebliches Großmachtdenken. Angst vor Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter sind überwunden, Gewalt gegen Fremde und Andersdenkende ist ausgemerzt. Vernichtungswaffen und militarisierte Außenpolitik gehören ebenso der Vergangenheit an wie staatliche Repression gegen Opponenten.
Der Weg in eine antifaschistische Gesellschaft ist noch sehr weit - davor verschließen wir die Augen nicht. Unser Zukunftstraum verstellt uns aber nicht die Sicht auf die heutige Realität. Vielmehr gibt er uns humanistische Kriterien an die Hand, nach denen wir die heutige Gesellschaft beurteilen und unsere nächste Schritte ableiten.
Rechtsentwicklung heute
Offensichtlich ist, daß die herrschende Politik heute nicht hin zu einer antifaschistisch demokratisch strukturierten Gesellschaft führt, wie wir sie anstreben, sondern in die entgegengesetzte Richtung zu einer undemokratischen und unsozialen Rechtsentwicklung. Gerade hier in Baden-Württemberg stehen wir vor einem Bündel von reaktionären und neofaschistischen Tatsachen, die Indizien dafür sind:
- Rechtsextreme und neofaschistische Politik wird in kleinen - teilweise schleichenden Schritten - teilweise auch mit Paukenschlägen eingeführt. Damit wird nationalistisches, rassistisches, fremdenfeindliches, unsoziales, egoistisches Denken und Handeln immer mehr zur Normalität - quasi unbemerkt hinter dem Rücken der Menschen. Die Funktion als Speerspitze der Rechtsentwicklung übernehmen Parteien und Organisationen wie die Reps, NPD und JN. Letztere haben in Eningen in der Faschistenvilla eine nationale Bildungsstätte. Die Republikaner-Fraktion wurde mit 12 Abgeordneten nun schon in der zweiten Periode in den Landtag gewählt - ein bisher einmaliger Vorgang in der Bundesrepublik. Von hier aus planen, organisieren und finanzieren sie ihre bundesweite Etablierung und vor allem ihren Wahlkampf für den Bundestag. Soziale Žngste vor Einkommensverlust, Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit werden demagogisch zum Stimmenfang genutzt und gegen ausländische KollegInnen gewendet.
- Salonfähig gemacht für breitere - auch intellektuelle - Kreise werden neofaschistische Ideologien in deutschnationalen Denkfabriken mit Schanierfunktion zwischen Rechtsextremen und Konservativen wie beispielsweise Filbingers Studienzentrum Weikersheim. Aber auch der Cannstatter Kreis in der Stuttgarter FDP erfüllte diese Funktion. Im Nachbarland Bayern verbündeten sich Teile von CSU und Faschisten, um gemeinsam gegen die Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht in München vorzugehen.
- Die Selbstverständlichkeit, mit der neofaschistische Parteien im öffentlichen Leben als "normaler" Teil der Demokratie behandelt und dargestellt werden, zeigt sich darin, daß der Rep Hauser vor vollem Haus als Alterspräsident den Landtag mit einer Grundsatzrede eröffnen konnte - ohne daß es auch nur ein Wörtchen parlamentarischen Protestes gegen ihn gegeben hätte. Ebenso von der "Normalität" im Umgang mit Faschisten zeugt, daß der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der NPD Deckert, der in Bruchsal wegen Volksverhetzung im Knast sitzt - sich gleichzeitig in der Landeshauptstadt Stuttgart als Kandidat bei der Oberbürgermeisterwahl beteiligen und diese als Forum für seine volksverhetzenden Thesen benutzen kann.
- Teile von CDU und FDP können sich vor dem Hintergrund faschistischer Politiker und des provozierten nationalistischen, rassistischen, fremdenfeindlichen Denken und Handelns, im Gegenpart als Partei der demokratischen Mitte darstellen. Während sie den Sozialabbau im großen Stil organisieren, und dort die Hauptauseinandersetzungen laufen, wird gleichzeitig ein neues Polizeigesetz eingeführt und der große Lauschangriff vorbereitet.
- Im Schatten der sozialen, demokratischen, nationalistischen und rassistischen Auseinandersetzungen - und unter dem Deckmantel angeblich "Friedensschaffender" Politik wird die Bundeswehr zu einer Angriffsarmee um- und aufgerüstet. Die Speerspitze für Kampf- und Kriegseinsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Verteidigunsgebietes, die Kommando-Spezialkräfte KSK wurden in Calw stationiert und hier am 1. April in Dienst genommen.
- Fast völlig im Dunkeln bleibt bei all diesen Vorgängen das Handeln der transnationalen Konzerne wie Daimler Benz, der größten europäischen Rüstungsschmiede mit gigantischen Gewinnen. Der Chef der Zentrale in Stuttgart, Schrempp, versuchte sich im Abbau von sozialen und demokratischen Rechten: Mit der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 % gab er das Signal, gültige Tarifverträge auszuhebeln und so die Gewerkschaften zu schwächen. Das Management von Robert Bosch, zweitgrößter Industriegigant in Baden-Württemberg weißt heute noch jede Verantwortung für die Beschäftigung und Ausbeutung von Zwangsarbeitern weit von sich.
- Im blendenden Scheinwerferlicht der Verurteilung durch die demokratische öffentliche Meinung bleiben ausschließlich jugendlichen Skins, die wie in Eppingen einen Betrunkenen zu Tode prügelten oder wie in Rommelshausen in der S-Bahn sechs Punks ohne Grund und ohne Vorwarnung verprügelten und verletzten.
Aktueller Antifaschismus
Die antifaschistische Gesellschaft steht nicht auf der Tagesordnung aber Alternativen zur aktuellen Politik sind gefragt. Der Abbau von demokratischen und sozialen Standards, die wir jahrzehntelang für selbstverständlich gehalten haben, bereiten immer stärker den Boden für eine inhumane, egoistische, rassistische und fremdenfeindliche Gesellschaft. In erster Linie gilt es, diese zu stoppen. Antifaschismus heute bedeutet also zuerst einmal, "Alles was sich gegen eine Wiederholung brauner Vergangenheit richtet" (Peter Gingold). Dazu muß alternatives Denken und Handeln entwickelt und durchgesetzt werden - gegen die verbreitete veröffentlichte und leider oft auch öffentliche Meinung.
Gegen Nationalismus und Standortlogik
Nationalistisches, rassistisches, fremdenfeindliches Denken und Handeln schwebt nicht nur über den Stammtischen, findet sich nicht nur in Mauerparolen, Flugblättern von Neofaschisten und in der den Gewalttaten jugendlicher Skins wieder:
- Amtlicher oder staatlicher Nationalismus grenzt sechs Millionen Ausländer von der Teilhabe an demokratischen Wahlen aus, verlangt von 600 000 hier geborenen Kindern von hierher geholten sogenannten "Gastarbeitern", daß sie sich eine Aufenthaltsgenehmigung ausstellen lassen.
- Innenminister Manfred Kanther stellt Ausländer als wachsende Gefahr für die Innere Sicherheit dar. Dabei verschweigt er, daß z.B. hier ansässige Ausländer seltener straffällig werden als Deutsche und daß ein Teil der Kriminalität der Asylbewerber nur durch die gegen sie extra erlassene Gesetze entstehen kann.
- Die Kreuther Klausurtagung der CSU forderte, Zuwanderer, die nicht aus EU-Ländern kommen, sollen erst nach einer Sperrfrist von 5 Jahren eine Arbeitserlaubnis erteilt werden - wohl frei nach dem Motto: Deutsche Arbeitsplätze nur für Deutsche.
- Die Standortdebatte der Unternehmer und ihrer Regierung spielt vor dem Hintergrund der ökonomischen Weltmarktkonkurrenz Betriebsbelegschaften gegeneinander aus. Transnationale Konzerne verdrängen ihre Konkurrenten vom Markt mit Produkten, die sie mit den kürzesten Entwicklungszeiten, den fortgeschrittesten Technologien, den niedrigsten Produktionskosten, dem verzweigtesten Vertriebssystem und den qualifiziertesten Arbeitskräften hergestellt haben. Aus Angst um die dadurch wegfallenden Arbeitsplätze werden Betriebsbelegschaften von den Unternehmern dazu gebracht, sich mit bei Löhnen und Arbeitszeiten gegenseitig zu unterbieten. Beschäftigte in andern Ländern werden als Verursacher des Arbeitsplatzabbaus dargestellt. Der Weg von der Standortkonkurrenz der Belegschaften zum Nationalismus ist beinahe vorgezeichnet.
- Die Um- und damit Aufrüstung der Bundeswehr erfolgt auf der Grundlage der Verteidigunspolitischen Richtlinien. Darin ist als eine Aufgabe der Bundeswehr angegeben, "den Zugang zu Märkte und Rohstoffe zu sichern".
Optimismus ist möglich
Der sogenannten Zeitgeist macht Asylbewerber, Ausländer, Sozialhilfeempfänger als Sündenböcke für leere öffentliche Kassen und die Gewerkschaften und Betriebsbelegschaften als Sündenböcke für die Massenarbeitslosigkeit aus. Gegen ihn aufzutreten erfordert persönliche Zivilcourage, langen Atem, Widerstand und Immunität gegen Resignation, Arbeitsaufwand in der Freizeit und das Zusammenfügen von Bündnissen. Hohe Anforderungen, die an uns AntifaschistInnen gestellt werden und keineswegs selbstverständlich zu erfüllen sind. Aber sowohl Schritte auf unserm Weg als auch das Erreichen des Ziels sind möglich. Unser Optimismus speist sich aus der Geschichte des Widerstand gegen den Faschismus und der Erfahrung unserer nun 50 Jahre alten Organisation
- aus Abwehrerfolgen der letzten 50 Jahre: die Berufsverbote, die Blockiererurteile wurden für Unrecht erklärt, die Geschichte des Faschismus konnte auch nach 50 Jahren nicht zu den Akten gelegt werden
- aus der Breite des Widerstands, den unendlichen vielen Gruppen, Organisationen, Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern und einzelnen Antifaschisten im Land, die gegen Abschiebehaft, unmenschliche Asylbewerberbedingungen, gegen Reps-Parteitage, faschistische Kaderschmieden und rechtskonservative Brückenköpfe zu Neofaschisten agieren und demonstrieren
- den friedensbewegten Menschen, die über Jahre Widerstand gegen die Auf- und Umrüstung, gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr leisten,
- den Castor-Gegnern, die die Frage des Atomstroms und damit auch der Atombewaffnung in den Köpfen der Menschen wach halten,
- den vielen jungen Menschen, die widerstehen und nicht zugucken und jammern.
- den vielen Menschen, die immer wieder auf die Straße gehen und öffentlich demonstrieren, wenn Gewalt und Feuer ausländische Menschen bedroht.
Parteiübergreifendes Bündnis
Mit ihnen allen gemeinsam, gehen wir Schritte gegen die aktuelle Rechtsentwicklung, schon im Hinblick auf den Weg in einen antifaschistische Gesellschaft. Unsere Organisation spielt dabei eine wesentliche Rolle. Bei uns arbeiten Menschen, die bereits Erfahrung im Kampf gegen den Faschismus gesammelt haben und diese Erfahrung weitergeben. Sie haben auch aus dem Fehler gelernt, daß der Faschismus durch die Spaltung der Arbeiterbewegung an die Macht gebracht werden konnte und stehen deswegen für ein breites Bündnis. Wir stehen für ein Generations- und Parteiübergreifendes Bündnis - wir stehen für langen Atem und Erfahrung.
Generationsübergreifende Erfahrung im Antifaschismus
Der Blick nach vorn macht unsere Organisation attraktiv, der Blick zurück selbstbewußt. Unseren Optimismus und unseren langen Atem holen wir aus Geschichte und Gegenwart.
Die Gründergeneration der VVN sind und waren Frauen und Männer aus dem antifaschistischen Widerstand. Schon vor 1933 warnten sie vor Hitler und dem Krieg. In den Konzentrationslagern und Zuchthäusern widerstanden sie und es gelang ihnen inmitten der unmenschlichen Hölle solidarisches Handeln zu organisieren. Trotz der demokratisch tiefen Niederlage, dem barbarischen Völkermord und dem faschistischen Vernichtungskrieg verloren sie nicht die Kraft und den Mut gegen die Faschisten aufzutreten. Unter tausendmal schwierigeren Bedingungen, als wir sie heute vorfinden, haben sie den Mut nicht aufgegeben, nicht resigniert, sondern haben weiter gekämpft, Widerstand geleistet, sind beharrlich geblieben obwohl Tausende unter ihnen umgebracht wurden.
Kaum war der Faschismus durch die Anti-Hitler Koalition beendet worden, schmiedeten sie 1947 das Bündnis der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und setzten weitere 50 Jahren unermüdlich ihre Kraft in die Aufgabe alles zu tun, damit es nie wieder zu Faschismus in Deutschland komme. Verbotsantrag, Entzug der Gemeinnützigkeit, Kalter Krieg, sie ließen sich nicht entmutigen. Ihr langer Atem und ihre politische Geradlinigkeit bestärkt uns in unserer Arbeit.
50 Jahre VVN
Unser 50. Geburtstag bedeutet nicht daß unsere VVN-BdA alt oder gar überholt wäre. Wie keiner anderen antifaschistischen Organisation ist es uns gelungen, die Erfahrung, den Mut und langen Atem weiterzugeben, den Staffettenwechsel über mehre Generationen zu organisieren. Unsere jüngsten Mitglieder sind heute 16 Jahre alt, unsere ältesten 93. Vier Generationen in einer Organisation: das zeugt von unserer Kraft, auch von unserer Fähigkeit zu einem Generations- aber auch Parteiübergreifenden Bündnis.
Den langen - oben beschriebenen - Weg vom Antifaschismus heute zu unserer antifaschistischen Vision des nächsten Jahrhunderts zu gehen dazu bedarf es dieses breiten Partei- und Generatiosnübergreifenden Bündnisses, das sich gemeinsame Ziele setzt, des langen Atems, der Beharrlichkeit und der Fähigkeit, trotz übermächtiger Gegner nicht in Resignation zu verfallen, immer wieder mit Mut den nächsten Schritt zu tun. Dafür stehen wir.
Der Blick nach vorn macht unsere Organisation attraktiv, der Blick zurück selbstbewußt. Unseren Optimismus und unseren langen Atem holen wir aus Geschichte und Gegenwart.
antifaNACHRICHTEN werden herausgegeben von der VVN/BdA Baden-Württemberg.
V.i.S.d.P.: Dieter Lachenmayer.
VVN-BdA Baden-Württemberg
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