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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschisten

VVN-BdA Baden-Württemberg
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antifNACHRICHTEN an9810
Nummer 4 / Oktober 1998


60 Jahre Pogromnacht:

Rassismus bekämpfen

von Reinhard Hildebrandt

Vor 60 Jahren, in den Tagen vom 7. bis 10. November 1938, hatte der antisemitische Terror in Nazideutschland einen grausamen Höhepunkt. Der Vorwand: ein Attentat in Paris. Am 7. November 1938 wird ein deutscher Diplomat, der Legationssekretär Ernst vom Rath, in Paris von dem 17jährigen Juden Herschel Grynszpan angeschossen, der ihn mit dem deutschen Botschafter verwechselt hatte; zwei Tage später stirbt er an den Folgen des Anschlags. Dieses Attentat wird von den Nazis benutzt, um die sogenannte "Kristallnacht" zu rechtfertigen: jüdische Geschäfte werden demoliert, Synagogen in Brand gesteckt, Juden verhaftet, gefoltert und ermordet.

Wer kennt Herschel Grynszpan, einen Emigranten, seit 1936 in Paris? Wer weiß, dass seine Eltern vor antisemitischen Ausschreitungen in Polen nach Deutschland ausgewichen waren, wo sie seit 1911 in Hannover lebten? In welchem Geschichtsbuch wird die Pogromnacht schon in Zusammenhang gebracht mit der vorhergegangenen Verschleppung von rund 17 000 ehemals polnischen Juden? Sie wurden von den Nazis am 29. 10. 1938, von einem Tag auf den anderen, zwangsweise über die Grenze in das nichtaufnahmewillige Polen abgeschoben, darunter Herschels Eltern. Dieses Unrecht der Deportation löste das Attentat aus.

Die Bilanz der Verfolgung
Durch organisierten "Volkszorn" wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 — unter Beifall aus der deutschen Öffentlichkeit — 191 jüdische Gotteshäuser in Brand gesteckt, weitere 76 vollständig demoliert. In der Nacht, in der die Synagogen brannten, wurden ferner 11 Gemeindehäuser, Friedhofskapellen und dergleichen in Brand gesetzt und weitere 3 völlig zerstört. Weiter wurden 815 jüdische Geschäfte zerstört, die Fensterscheiben zerschlagen und die Ware auf die Straße geworfen, vielfach auch geplündert, 29 Warenhäuser und 171 Wohnhäuser wurden in Brand gesteckt oder zerstört. Die Nazis benennen diese Nacht nach den Bergen von zerbrochenen Schaufenstern amtlich und bewusst verharmlosend: "Kristallnacht". Sie wurde propagandistisch ebenso planmäßig vorbereitet, wie man später direkt oder indirekt bestrebt war, die Ausrottung der Juden agitatorisch zu rechtfertigen. Schon einige Tage vor dem Attentat in Paris wurden in deutschen Konzentrationslagern Baracken und Notunterkünfte für die zu erwartenden Opfer der Massenverhaftungen errichtet. Hans Gasparitsch berichtet, dass im KZ Dachau schon mehrere Tage vor dem 9. November Baracken geräumt wurden und ein Stacheldraht entlang der Lagerstraße gezogen wurde, der das KZ in zwei Hälften teilte. Er erlebte die Einlieferung der jüdischen Mitbürger. Insgesamt wurden etwa 30 000 Juden in der Reichspogromnacht verhaftet. Außer in das KZ Dachau wurden sie in den folgenden Tagen in die KZs Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. In derselben Nacht wurden etwa 100 Menschen während der Ausschreitungen ermordet — erschlagen, erstochen, erschossen.

Die Mörder gingen straffrei aus, nur in wenigen Fällen wegen "Disziplinlosigkeit" verurteilt. In einigen Fällen, in denen während der Exzesse jüdische Mädchen und Frauen vergewaltigt wurden, kommt es zu geringfügigen Strafen wegen "Rassenschande".

Der Raub jüdischen Eigentums
Verbunden mit diesen Zerstörungen und der massenhaften Verfolgung war der Raub jüdischer Vermögen, besser bekannt unter dem Stichwort "Arisierung". Dabei bereicherten sich "arische" Geschäftsleute und Banken, Versicherungen und der faschistische Staat am Eigentum der deutschen Juden:

Große und kleine Unternehmer ließen sich die noch in jüdischem Besitz befindlichen Eigentumsanteile von Fabriken und Geschäften für einen lächerlichen Betrag, der darüberhinaus noch in die Staatskasse floss, übertragen.

Die Banken übernahmen lautlos jüdische Vermögenswerte, soweit sie nicht an den Staat abgetreten werden mussten. Versicherungen verweigerten die Auszahlung von Ansprüchen aus Versicherungsverträgen.

Darüberhinaus wurden die deutschen Juden zur Zahlung einer "Wiedergutmachung" in Höhe von insgesamt 1,25 Milliarden Goldmark verpflichtet.

Die staatliche Aneignung jüdischen Eigentums in der "Arisierung" diente direkt der Kriegsfinanzierung.

Die Reichspogromnacht war bisheriger Höhepunkt der menschenverachtenden Politik der Nazis. Sie wurde der Ausgangspunkt für die menschenvernichtende Politik der Nazis.

Proteste gegen die Judenpogrome
Nur wenige in Deutschland protestierten gegen die Judenpogrome. Weder die gesellschaftlichen Eliten, noch die Leitungen der Amtskirchen oder die späteren Männer des 20. Juli 1944 ließen dazu etwas verlauten. Es waren zumeist politische Gegner des Naziregimes, die hiergegen ihre Stimme erhoben. Kommunisten verfassten und verbreiteten Flugblätter unter der Überschrift "Gegen die Schmach der Judenpogrome". Heinrich Mann schrieb zu den Judenpogromen: "Zum erstenmal erkennen alle, welchen Höllenpfuhl dieses Regime aus der zivilisierten Menschheit machen würde, wenn es sie mit ihrer Weltanschauung weiter verpestete." In den Konzentrationslagern erfuhren die internierten jüdischen Häftlinge von den bereits inhaftierten Widerstandskämpfern, den Trägern der "roten Winkel", oftmals große Solidarität, die ihnen das Überleben in dieser "Vorhölle des Todes" ermöglichte.

Vom November 1918 über den November 1923 zum November 1938
9. November 1918: Der Kaiser ging, doch zu viele blieben ... Der Feind der Demokratie steht rechts!

"Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau." grölten die Nationalisten durch die Straßen der deutschen Städte und Dörfer. Als Folge des Mordaufrufs wurde der Außenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922 eines der 355 Opfer der antisemitischen und antikommunistischen Hetze in der Weimarer Republik. Die beiden Mörder Rathenaus, die auf der Flucht erschossen wurden, der damals 26jährige Ingenieur Hermann Fischer und der 24jährige Oberleutnant zur See a.D. Erwin Kern, wurden später von den Nationalsozialisten gefeiert, und es entspricht unbestreitbar einer gewissen Folgerichtigkeit, dass im Auftrage Hitlers für die beiden Attentäter im Dritten Reich Gedenkfeiern abgehalten wurden, denn sie und ihre Methoden waren Wegbereiter der braunen Barbarei. Walther Rathenau! Kurt Eisner! Matthias Erzberger! Rosa Luxemburg! Karl Liebknecht! und hunderte weitere politische Morde. Carl von Ossietzky urteilte 1930 in der Weltbühne: "Es geht eine Blutlinie durch die zwölf Jahre der Republik. Die Gerichte haben sie niemals ernsthaft bloßgelegt. Ein einziger, konsequent zu Ende geführter Ehrhardt- oder Roßbach-Prozess hätte uns den ärgsten Zauber der Hitler-Macht erspart." Ehrhardt und Roßbach waren Führer der Freikorps. Die Freikorps waren am Kapp-Putsch beteiligt, mit dem die Demokratie gestürzt werden sollte, sie waren Wegbereiter des Faschismus und ihre Offiziere an allen nationalsozialistischen Aktionen während der Weimarer Republik beteiligt.

Viele wollten die Warnzeichen nicht sehen, zu viele Demokraten standen passiv am Rand. Im Programm der NSDAP von 1920 heißt es unter Punkt 4: "Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein."

9. November 1923: Hitler- Putsch in München. Der Historiker Erich Eyck schrieb über die damalige Zeit der "Machtergreifung": "Die wenigen Stunden, in denen Hitler die Macht in den Händen zu haben glaubte, genügten, um zu zeigen, wie eine nationalsozialistische Gewaltherrschaft aussah. Jüdische Privatwohnungen wurden geplündert und zwei Dutzend Geiseln festgenommen, deren Namen willkürlich aus dem Telefonbuch herausgesucht waren, nur weil sie jüdisch klangen. Eine bewaffnete Horde drang in den Sitzungssaal des Münchner Magistrats und schleppte seine sozialdemokratischen Mitglieder mit sich fort. Sie wurden, wie einer von ihnen unter Eid vor Gericht bekundete, beschimpft, bespuckt, gestoßen und mit Erschießen bedroht."

Am 15. September 1935 wurde auf dem Reichsparteitag in Nürnberg das "Reichsbürgergesetz" und das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" verkündet, bekannt als Nürnberger Gesetze. Damals tauchte zum erstenmal das Wort "Jude" in einem Reichsgesetz auf. Sie waren in der Folgezeit die Grundlage für den systematischen Ausschluss der Juden aus der staatlichen Gemeinschaft. Maßgeblich daran beteiligt war der Kommentator der Nürnberger Gesetze, der Jurist Dr. Hans Globke. Bis zuletzt war Globke an der Schaffung der Rechtsgrundlagen für die Judenverfolgung beteiligt. Persönlich zeichnete er 1944 einen Erlaß, der den Übergang des Vermögens verstorbener (und ermordeter) Juden auf das Reich regelte. Globke konnte nach 1945 seine Beamtenlaufbahn, nun als CDU-Mitglied fortsetzen. Von 1953 — 63 war er Staatssekretär Adenauers im Bundeskanzleramt. Die VVN forderte im Jahre 1957 Globkes Abberufung.

Erinnerung heute
Die Erinnerung an die Pogromnacht verweist darauf, dass mit dieser Aktion für alle sichtbar der letzte Schritt vor der systematischen, staatlich sanktionierten und betriebenen Vernichtungspolitik gemacht wurde. Man habe nichts gewusst, das kann für die deutsche Bevölkerung des Jahres 1938 nicht gelten. Auch kann niemand für sich in Anspruch nehmen, dass er gezwungen war, sich an dem jüdischen Eigentum zu bereichern, wie es die Deutsche Bank und andere in großem Stil betrieben haben. Vorstandsmitglied der Deutschen Bank war 1938 Hermann Josef Abs. Sein großer wirtschaftlicher Einfluss in der NS-Zeit auch bei Firmen, die im Krieg in von Deutschland besetzten Gebieten arbeiteten, brachte ihm nach 1945 manche Anfeindung ein und in Jugoslawien in Abwesenheit sogar eine Verurteilung als Kriegsverbrecher. Auch er konnte seine Karriere fortsetzen. Abs wurde Finanzberater Adenauers, war Leiter der deutschen Delegation bei der Londoner Schuldenkonferenz 1951 — 53 und übernahm 1957 die Führung der Deutschen Bank.

Wir fordern anläßlich des 60. Jahrestages der Reichspogromnacht: Die Profiteure der "Arisierung" endlich — auch finanziell — zur Verantwortung ziehen!

Rassismus damals - Rassismus heute
Der Völkermord an den Juden gehörte in den Gesamtrahmen der nazistischen Weltbeherrschungspolitik, ebenso wie der Völkermord an den Sinti und Roma und der Vernichtungskrieg gegen die zu "Untermenschen" gestempelten Polen, Russen, Ukrainer, Jugoslawen usw. Aber Theorie und Praxis des "Herrenmenschentums" richteten sich auch gegen Deutsche, gegen "Lebensuntüchtige", wie das furchtbare Wort für die Opfer der NS- "Euthanasie" hieß, die hinter den Mauern von Hadamar und anderen Anstalten wie z.B. Grafeneck zu Zehntausenden ermordet wurden. Im vergangenen Jahr wurden 11 720 Gewalttaten mit neofaschistischem Hintergrund begangen, 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Bei fast 800 Taten handelte es sich um körperliche Gewalt gegen Menschen — gegen Ausländerinnen und Ausländer, Obdachlose, Behinderte, Homosexuelle, Punks, Linke, Antifas... Mindestens 120 Menschen fanden in den letzten 5 Jahren in unserem Land den Tod durch neofaschistische Schläger und Brandstifter.

Der Tag, an dem vor 60 Jahren in Deutschland die Synagogen brannten, muss einen Sinn erhalten, der über die Besinnung und Trauer hinausgeht. Die Umsetzung der Empörung in konkretes Handeln ist notwendig, damit nie wieder Rassismus und Völkerhetze die Menschen bedrohen. Wir fordern eine entschiedene Bekämpfung des neofaschistischen Terrors und aller faschistischer und rassistischer Umtriebe.!

Reinhard Hildebrandt



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