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Nummer 4/ Oktober 1999


Einige Vorschläge für Lehren aus dem Krieg gegen Jugoslawien:

Der Krieg, das demokratische System und die Staatsraison

von Dieter Lachenmayer

Gerade drei Monate sind seit dem Ersten Krieg der Bundesrepublik Deutschland verstrichen und schon scheint sich niemand mehr daran zu erinnern. Folgt man der Mainstream-Berichterstattung, so könnte man fast glauben, dieser Krieg habe keinerlei Spuren in der politischen Landschaft hinterlassen.


"Ich habe mich immer gewundert, wie wenig wahrgenommen worden ist, daß die Entscheidung zum Krieg eine fundamentale Veränderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet hat." Gerhard Schröder, Bundeskanzler


Da verliert die kriegsführende Regierungspartei SPD bei vier Landtagswahlen und einer Kommunalwahl in Folge Wähler in teilweise 2 stelligen Prozentzahlen. Ihr Juniorpartner B90/ die Grünen halbiert und marginalisiert seine Wahlergebnisse. Die ebenfalls kriegsbefürwortende Opposition, die CDU, profitiert zwar, kann ihre eigenen Stimmergebnisse (in absoluten Zahlen) dennoch nur vereinzelt verbessern. Lediglich die einzige Partei, die im Bundestag gegen den Kriegskurs stimmte, verzeichnet nennenswerte Wählerzuwächse.
Aber mit dem Krieg, hat das alles nichts zu tun. Keines der nach jeder Wahl eifrig den Motivationen der Wähler nachforschenden Meinungsinstitute scheint die Frage, ob und wie der Krieg sich auf das Wahlergebnis niedergeschlagen hat, auch nur gestellt zu haben, keinem der schlauen Kommentatoren, die im nachhinein schon vorher das Gras wachsen gehört haben, kommt auch nur der Gedanke, daß dieser Krieg das Wahlverhalten beeinflußt haben könnte.

Der Krieg spielt keine Rolle
Selbst das Thema, das zur Zeit die Spalten und Schlagzeilen füllt, die Auseinandersetzungen der SPD mit ihrem vormaligen Vorsitzenden ist von der Kriegsfrage gesäubert. Vergessen ist oder soll werden, daß auch Oskar Lafontaine diese Frage in den Vordergrund seiner Differenzen mit der SPD-Regierung stellt: Seine Kritik an der Bundesregierung in den vorab veröffentlichten Passagen seines Buches beginnt mit dem Satz: "Daß ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung die Bundesrepublik Deutschland sich zum ersten Mal an einem Krieg beteiligte, der das Völkerrecht mißachtete und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar war, ist schwer zu verkraften." Welcher Kommentator, Moderator oder Talkshowgast, die das Thema SPD und Oskar Lafontaine in diesen Tagen so strapazieren, hätte sich je auf diesen Satz bezogen?

Die Vierte Gewalt
Nein der Krieg, oder besser die Gegnerschaft zu diesem Krieg, spielt in der veröffentlichten Meinung keine Rolle.
Wenn derzeit täglich die Teilnehmerzahlen von Demonstrationen, Unterschriftensammlungen oder anderen Protesten aus serbischen Städten, von denen hierzulande bislang kaum jemand gehört hat, verkündet werden, wer weiß da schon, daß die Proteste gegen den Krieg in Srasbourg und Calw, in Freiburg, Karlsruhe, Mannheim und Stuttgart, in nahezu jeder Stadt im eigenen Land, in den selben Blättern und Sendern ungehört verhallten?
Gleichzeitig steht die detaillierte Kunde von den Aktivitäten der serbischen Opposition im krassen Gegensatz zum veröffentlichten Wissen über die Folgen des Kriegsgeschehens in diesem Land. Wo könnte man lesen, hören oder sehen, welches Ausmaß an Tod und Leid, Zerstörung, Umweltschädigung und sozialem Elend der Krieg der NATO dort hinterlassen hat?

Polarisierung der Gesellschaft
Das eigentümliche Schweigen um diesen Krieg, seine Folgen und seine Gegner verdeckt oder soll verdecken, daß dieser Krieg die Gesellschaft der Bundesrepublik verunsichtert, polarisiert und gespalten hat.
Das zeigen z.B. die Umfragen, die während des Krieges gemacht und veröffentlicht wurden: Nur knapp die Hälfte der Bevölkerung unterstützte diesen Krieg. Die andere Hälfte gehört in deutlicher oder weniger deutlicher Ausprägung ins Lager der Kriegsgegner.
Diese Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich auch in den gesellschaftlichen Großorganisationen wieder: In der evangelischen Kirche, wie es z. B. der Kirchentag in Stuttgart gezeigt hat (vgl. AN vom Juni 99). In den Gewerkschaften, in denen sich nach anfänglicher Ergebenheitsadresse des DGB-Vorsitzenden während des Krieges der Widerstand dagegen formierte und zu einer wichtigen Säule der Antikriegsbewegung wurde. In der SPD, aus der in den letzten Monaten, wie zu hören ist, 44.000 Mitglieder ausgetreten sind und bei den Grünen, wo ganze Ortsvereine zu existieren aufgehört haben, wie in Stuttgart Zuffenhausen, weil die Mitglieder die Partei verließen.

Gewaltenteilung?
Die Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich aber nicht wieder in ihrem Führungspersonal und in ihren verfassungsmäßigen Institutionen. Die Regierung, die Parteien des Parlaments, selbst die angebliche Opposition - mit Ausnahme der leider marginal vertretenen PDS - stehen quasi wie ein Mann zum Krieg.
Die Justiz, zu der keine der vielen eingereichten Klagen wegen offenkundigem Bruch von Völkerrecht, Grundgesetz und Strafgesetz durchdringen konnte, verfolgt stattdessen reihenweise KriegsgegnerInnen, die zur Verweigerung der Bombenbefehle und zur Desertion aufgerufen haben.
Auch die sogenannte vierte Gewalt, die Mainstream-Medien, ist und war auf diesen Krieg eingeschworen. Ihre eigentliche Aufgabe, für die sie verfassungsmäßige Privilegien genießt, Kritik und Kontrolle, fand und findet, was den Krieg betrifft, nur in publikumsschwachen Nischen statt. Um solche Nischen zu bekämpfen, schreckt das Außenministerium noch nicht mal vor einer offenen Rechtfertigung der Verletzung der Informationsfreiheit zurück (s. Beitrag von Eckhard Spoo in diesem Heft.)

Frage nach der Demokratie
Das alles wirft zunächst Fragen nach der Demokratie im Lande auf. Was ist das für ein politisches System, in dessen Institutionen die Meinung von ca. 50 % der Bevölkerung offiziell noch nicht mal wahrgenommen wird?
Was ist das für ein Rechtsystem, in dem zentrale verfassungsrechtliche Festlegungen - Vorrang des Völkerrechts, Verbot eines Angriffkrieges, Beschränkung des Militärs auf Verteidigung - und selbst klare strafrechtliche Bestimmungen - Strafbarkeit der Vorbereitung eines Angriffkrieges - noch nicht mal vor den Gerichten verhandelt werden können?
Was läuft falsch mit der Pressefreiheit, wenn 95 % der Medien sich in einer zentralen Frage, auf regierungsamtliche bzw. regierungsfreundliche Nachrichtenquellen bewußt beschränken?

Vom Brunnenbohren zum Bombenkrieg
Es wirft aber auch die Frage nach dem Stellenwert auf, der dem Krieg, bzw. der Kriegsfähigkeit des Landes zugemessen wird. Schließlich bergen die oben geschilderten offensichtlichen Beschädigungen und Verletzungen des demokratischen Systems auch das Risiko des Legitimationsverlustes in sich. Die Geschichte der Bundesrepublik belegt, daß der demokratische Anspruch immer zurückstehen mußte, wenn es um Militarisierung und Kriegsfähigkeit ging: Die Remilitarisierung geschah gegen die erkennbare Ablehnung der großen Mehrheit der Bevölkerung. Die Atombewaffnung der Bundeswehr (wegen us-amerikanischen Einspruches lediglich mit Trägerwaffen) wurde durchgesetzt ebenfalls gegen den Widerstand der Mehrheit. Die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen erfolgte trotz der bis heute größten Massenbewegung in der Geschichte der Republik.
Auch die derzeitige Politik der Herstellung der Kriegsfähigkeit der Bundesrepublik, die 1991 begann und jetzt im Krieg gegen Jugoslawien ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, mußte von Anfang an gegen die Bevölkerung betrieben werden. Sanitätseinheiten im Kambodscha, Minenräumen am Golf, Brunnenbohren in Somalia bis hin zum "humanitären" Bombenkrieg in Jugoslawien und der Wiedergutmachung von Auschwitz, waren und sind die Stichworte, mit denen die vordem hartgesottene Kriegsabneigung der Mehrheit der Bevölkerung weichgekocht wurde.

Staatsraison
Daß für diese Politik immer wieder erhebliche Defizite der demokratischen Legitimation in Kauf genommen wurden, beweist, daß Kriegsfähigkeit und Krieg ein Kernpunkt der Staatsräson der BRD sind.
Dies gilt um so mehr für die Berliner Republik, die sich durch Eingliederung der DDR, durch den Wegfall der Blockkonfrontation, aus der engen Einbindung in die gegen den deutschen Militarismus gerichteten Sicherungssysteme der Nachkriegsordnung fast restlos befreien konnte.

Durchgebrannte Sicherungen
Im Krieg gegen Jugoslawien haben alle diese Sicherungsysteme versagt: Uno und Völkerrecht wurden mit einem Federstrich beiseite gelegt. Das Kriegsverbot des Grundgesetzes, soweit nicht ohnehin schon 1994 zur Unkenntlichkeit uminterpretiert, bewirkte nichts. Der Nato-Vertrag, der ebenfalls einen Krieg außerhalb des Verteidigungszweckes verbietet und zudem für die Einbindung des deutschen Militärs sorgen soll, ist obsolet, desgleichen der 2+4 Vertrag. Das internationale Rechtssystem hat ebenso versagt wie das Rechtssystem der Bundesrepublik.
Das Durchbrennen oder besser die Demontage dieser Sicherungen erfolgte nicht wegen der Menschenrechte der albanischen Bevölkerung im Kosovo. Es geht auch nicht allein um die Fortsetzung der deutschen Politik der Zerschlagung Jugoslawiens, die 1991 mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens begann. Das Konzept ist umfassender: Es geht um die Durchsetzung der deutschen Staatsräson: Die Herausbildung Deutschlands zur europäischen Hegemonialmacht, für die Kriegsfähigkeit und ggf. Krieg als unverzichtbar gelten.

Scharpings Lehre aus dem Krieg
Die offizielle Version, wie es zur deutschen Kriegsbeteiligung kommen konnte, war die theatralisch vorgetragene innere Zwangslage sich zwischen Teufel und Beelzebub, sprich zwischen nie wieder Krieg und nie wieder Auschwitz entscheiden zu müssen.
Folgerichtig wäre es nun als Lehre aus diesem Krieg zu ziehen, wie eine solche Zwangslage künftig zu verhindern wäre. Die Lehren die einer der Hauptakteure der inneren Zerissenheit, Kriegsminister Scharping heute öffentlich aus diesem Krieg zieht, hat weder mit der künftigen Verhinderung von Auschwitz noch mit der künftigen Verhinderung von Krieg zu tun: "Nach den Lehren aus dem Kosovokrieg muss die Bundeswehr nach Auffassung von Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) in den kommenden zehn Jahren für 20 Milliarden Mark neue Rüstungsprodukte und Technologie anschaffen." (StZ, 4.10.) Es geht schlichtweg um Aufrüstung, um die Verbesserung der Kriegsfähigkeit und der Interventionsmöglichkeiten der deutschen Armee. Wohlgemerkt: der deutschen Armee, nicht der Uno oder der Nato, den dort wären "Rüstungsgüter und Technologie" wie die moderne Umschreibung für Waffen und Kriegsgerät lautet, für jeden denkbaren Krieg im Übermaß vorhanden.

Und unsere?
So wäre es nun an der Zeit für die Friedenskräfte in der Bundesrepublik, ihre eigenen Lehren aus diesem Krieg zu ziehen. Dazu einige Vorschläge:
  1. Der Krieg gegen Jugoslawien war nicht der letzte Krieg, an dem die Bundeswehr beteiligt ist oder den sie selber führt, sondern der erste. Die deutsche Politik soll auch künftig militärisch, d.h. mit Kriegsdrohung und Krieg gestaltet werden. Die wahrscheinlichen Schauplätze dieser Politik und dieser Kriege liegen nicht auf der Südhalbkugel in den Ländern des Trikonts, sondern dort, wo auch die traditionellen deutschen politischen und wirtschaftlichen Interessen liegen, in Ost- und Südosteuropa und in West- und Nordwestasien.
  2. Die Bedrohung des Friedens geht nicht mehr in erster Linie allein von der postkolonialen Weltmachtpolitik der USA aus (Korea, Vietnam, Mittelamerika, Irak ...). Auch nicht, was Europa betrifft von der NATO. Dazu tritt - unter deutscher Führung - ein zu eigenständiger Militärpolitik befähigtes und bereites Westeuropa. Zunehmend wird dabei auch der deutsche Militarismus und eine selbständige Militärpolitik Deutschlands eine Rolle spielen. Die Konflikte mit Russland, innerhalb der Führungsmächte Europas und schließlich auch mit der USA sind bereits programmiert.
  3. Der Nachkriegskonsens "Nie wieder Krieg von deutschem Boden", der lange Zeit noch wenigstens in Sonntagsreden allgemein galt, und bis zum Jugoslawienkrieg in allen gesellschaftlichen Großorganisationen links von der CDU, ist endgültig zerbrochen. Er ist auch innerhalb der DGB-Gewerkschaften nicht mehr uneingeschränkt gültig. Um diesen selbstverständlichen Grundsatz muß ab sofort auch wieder in der Arbeiterbewegung, wie in allen anderen demokratischen Bewegungen gerungen werden.
  4. Es gibt keine juristischen oder institutionellen Sicherungen gegen deutsche Kriegsabenteuer. Die Friedens- und Antikriegsbewegung in der Bundesrepublik ist auf sich alleine gestellt. Die einzige Kraft, die weitere Aufrüstung und neue Kriegsabenteuer verhindern kann, ist eine breite außerparlamentarische Bewegung, die für eine sich deutlicher als bisher artikulierende Ablehnung von Kriegsvorbereitung und Krieg sorgen kann.
Der Aufbau einer solchen mehrheits- und durchsetzungsfähigen Friedensbewegung ist derzeit vordringliche Aufgabe und auch die geschichtliche und aktuelle Verantwortung der Antifaschisten.
Denn auch heute gilt: Der Frieden ist zwar nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts!

Dieter Lachenmayer ist Landesgeschäftsführer der VVN-BdA und Mitglied im Arbeitsausschuß des Friedensnetzes Bad.-Württ.

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