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Nummer 4 / Oktober 1999


Ein Reisebricht aus Griechenland:

Die Stadt, in der die Zeit steht stillsteht

von Elke Günter

Wer mit offenen Augen durch Griechenland reist und mehr sucht als herrliche Strände, eine großartige Landschaft und eindrucksvolle Zeugnisse aus der Antike, sieht sich in diesem schönen Land bald mit einer sehr viel jüngeren Vergangenheit konfrontiert. Auf dem Peloponnes begegnet sie einem auf fast jeder Paßhöhe in Form eines schlichten behauenen Steines. In den Stein sind Namen eingemeiselt und ein Datum. Die Jahreszahl ist immer die gleiche: 1943. Oft liegen frische Blumen da. Die, deren Namen auf dem Stein stehen, wurden von der deutschen Wehrmacht erschossen, erhängt, erschlagen. Sie waren Partisanen oder wurden als Geiseln getötet. Sie sind nicht vergessen.

Kalavrita liegt im Norden des Peloponnes. Wer die Autobahn von Patras nach Athen benutzt, kommt nach etwa 40 km an der Abzweigung vorbei. Von dort aus sind es noch 38 km bis in die Kleinstadt. Die Straße führt an dem jahrhundertealten Kloster Megali Spileo vorbei. Das Gebäude schmiegt sich eng an den Felsen, scheint an der steilen Felswand zu kleben. Im Dezember 1943 wurde dieser abgeschiedene Ort von Wehrmachtssoldaten überfallen. Sie zerstörten das Kloster, zündeten es an und töten die Mönche, indem sie sie die Felswand hinabwarfen.
Wir fahren diesmal mit der Bahn. Von dem am Meer gelegenen Ort Diakofti fährt eine Zahnradbahn nach Kalavrita. Auf der 28 km langen Strecke bewältigt der Zug eine Steigung von über 700 Höhenmetern. Er windet sich durch unzählige in den Fels gehauene finstere Tunnels. Zwischen den Tunnelfahrten blickt man in die wild-romantische Vuraikosschlucht mit ihren steilaufragenden Buntsandsteinfelsen. Nach einer guten Stunde ist die Endstation Kalavrita erreicht. Der Ort ist von hohen Bergen umgeben. Die schöne Umgebung lädt zum Wandern. Athener Bürger flüchten im Sommer vor der unerträglichen Hitze und dem Smog ihrer Stadt hierher. Auch im Winter ist der Ort von wohlhabenden Athener Familien bevölkert. Kalavrita ist ein Wintersportort, Ausgangspunkt für das Skizentrum am 2300 m hohen Chelmos. Andenkenläden, Hotels, Restaurants, Kneipen - eine betriebsame freundliche griechische Kleinstadt mit touristischer Infrastruktur wie hundert andere auch. Und doch ist hier vieles anders. Wir frühstücken in einem kleinen Cafe an der Hauptstraße. Eine alte Frau in schwarzen Kleidern bringt uns Kaffee, Brot, Butter und Honig. An den Wänden des Cafes hängen Ölbilder. Eines zeigt die brenndende Stadt, ein anderes einen langen Zug von Menschen, die von Bewaffneten einen Hügel hinaufgetrieben werden.
Wir spazieren durch das Städtchen, kommen schließlich an der Kirche vorbei. Es ist eine der üblichen orthodoxen Kirchen mit zwei Türmen, Kuppeldach und offenem Glockenstuhl. Die Uhr am linken Turm zeigt drei Minuten nach halb Drei. Sie zeigt diese Uhrzeit seit 56 Jahren. Am 13. Dezember 1943, als die Kirche und die Stadt brannte und viele ihrer Bewohner starben, ist sie stehengeblieben. "Die Stunde der Zerstörung ließ die Zeit stillstehen. Die schweigende Glocke wird immer von Verzweiflung und Tod, Blut, Feuer und Leiden erzählen zur genauen Zeit in der das Wehklagen begann" steht in Griechisch und Englisch auf Marmortafeln am Glockenturm.
Das große Kreuz auf dem Hügel über der Stadt ist weithin sichtbar. Hier befindet sich die Gedenkstätte. Sie erinnert an 1400 Männer, Alte, Junge, Kleinkinder die hier ermordet wurden. Ihre Namen sind in weißen Marmor eingraviert. Sie starben am 13. Dezember 1943. An diesem Tag setzte die 117. Jägerdivision der deutschen Wehrmacht 640 der rund 700 Häuser in Brand und tötete alle männlichen Bewohner der Stadt. Franzeska Nika war damals 19 Jahre alt. Sie hat das Grauen dieses 13. Dezember in Kalavritha erlebt und niedergeschreiben. "Kalavrita 1943 Augenzeugenbericht" heißt das Büchlein. Die Soldaten haben die Bewohner der Stadt auf einem Platz zusammengetrieben und "selektiert" berichtet sie. Die Männer werden von den Soldaten weggeführt und die Frauen ins Schulhaus gesperrt. Die Stadt brennt, auch das Schulhaus fängt Feuer. Den Frauen gelingt es jedoch, der Feuerhölle zu entkommen. "Ungefähr siebzig Deutsche ziehen von oben herunter und singen Heidi-Heido. Sie ziehen an uns vorbei mit ihren Stiefeln auf das Pflaster stampfend. Schnellen Schrittes marschieren sie weiter. Sie sind wohl mit dem Niederbrennen fertig. Plötzlich ruft eine Frau: 'Da sind sie die Männer! Da hinten.' Sie gehen, sie leben. Aber warum halten sie an und warten, warum gehen sie nicht weiter? Da kommt uns eine Frau entgegen, rauft sich die Haare und schreit: 'Die Männer gibt es nicht mehr. Wir haben sie alle verloren. Sie wurden getötet.' Es kann nicht sein. Ich komme näher und sehe nichts. Plötzlich: Oh mein Gott, welch ein Anblick, Wieviele Leichen! Wieviel Blut. ... Jede Frau, die heraufkommt, sucht wie wild in dem Haufen der Getöteten nach ihren Angehörigen. Findet ihren Vater, ihren Bruder, ihren Mann, ihren Sohn. Mein Gott, drei Generationen sind von einem Augenblick auf den anderen verloren. Wie soll der Mensch über ein solches Schicksal hinwegkommen. Keiner ist übriggeblieben - das ist nicht so ein Satz, der einfach gesagt werden kann." Die Frauen von Kalavrita haben die Männer beerdigt. "Wir hatten keine Popen und keinen Kirchensänger: die waren ja auch tot. Wir zogen ihnen weder ihre guten Kleider an, wie es Brauch ist, noch schmückten wir sie mit Blumen. Eine Handvoll Erde und einige Tränen, wenn sie denn aus unseren versteinerten Augen fließen konnten."
Das "Unternehmen Kalavrita" war die größte Mordaktion der deutschen Besatzer in Griechenland. Selbst der mit den Deutschen kollaborierende griechische Premier Rállis protestierte gegen diese Aktion der Wehrmacht bei General Speidel, der in seinem Antwortschreiben die Geschehnisse rechtfertigte: Die Truppe sei in Kalavritha aus Häusern beschossen worden, und die Bevölkerung habe Grausamkeiten gegen die Besatzer verübt. Tatsächlich wurden zwei Soldaten von Partisanen erschossen. Vier weitere wurden verletzt. "Der Krieg ist hart, und ich darf vielleicht in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß die deutsche Bevölkerung ungleich schwerere Verluste durch die englisch-amerikanischen Terrorangriffe auf deutsche Städte und Kulturdenkmäler erleidet" teilte Speidel Premier Rállis abschließend mit.
In der Gruft am Mahnmal erinnern weit über 1000 Öllämpchen an die Ermordeten. Eines für jedes Opfer. Wir stehen vor dem eindrucksvollen Mahnmal und lauschen der Stimme aus dem Lautsprecher, die uns in deutscher Sprache die Geschichte der Zerstörung der Stadt und der Ermordung ihrer männlichen Bewohner erzählt. Es ist einer dieser Augenblicke, in denen wir uns schämen, Deutsche zu sein.

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